Rasen in Richtung Unterwelt

Als »nationales Heiligtum«, als liminaler und auch als höllischer Ort: So lernt das Publikum am 8. April Autobahnen neu kennen. Lyrikerin Monika Rinck rüttelt im Gespräch mit Literaturwissenschaftlerin Anna Bers am absurden Gerüst unserer Realität.

Von Marie Bruschek

Bild: Marie Bruschek

Wir rasen Richtung Unterwelt, »der Stau als Purgatorium«, taumeln und schwanken zwischen vermeintlicher Effizienz und erstarrter Gegenwart – doch unbeirrt rauscht der Verkehr auf den Autobahnen weiter. Diesen Eindruck hat Schriftstellerin Monika Rinck in Höllenfahrt und Entenstaat lyrisch verarbeitet und am 8. April im Literarischen Zentrum Göttingen mit Moderatorin Anna Bers und dem Publikum geteilt. Im Gespräch loten beide ein Spektrum an Fragen aus, die rund um den Lyrikband schwirren: Was für eine Topographie ist die Autobahn? Wo beginnt die Höllenfahrt? Und: Kann Lyrik, speziell in diesem Fall, radikalisieren?

Lyrik im Sachbuchregal

Gespräch und Gedichte wechseln sich fließend ab, gekonnt lenkt die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Anna Bers durch den Abend, der verschiedene Autobahnprojekte, politische Wirren, imaginäre, analoge und digitale Räume ansteuert. Ihre klugen Fragen zusammen mit Rincks tiefgehenden Überlegungen stoßen auf interessierte Zuhörer:innen, die angesichts des Humors der Texte auch ein paar Schmunzler nicht vermeiden können.

Rincks Lyrikband Höllenfahrt und Entenstaat erschien vergangenes Jahr. Im Langgedicht »Höllenfahrt« erkundet sie automobile Todesfahrten und andere Unterweltreisen. Gespickt mit zahlreichen intertextuellen Referenzen, polyphonem Spiel und Figuren wie dem »Müden« rasen ihre Überlegungen zum Bundesverkehrswegeplan dahin – passagenweise liest Rinck mit einem Tempo, das einige Rapper vermutlich vor Neid erblassen ließe. Tempowechsel seien, so die Schriftstellerin, auch immer ein Wahrnehmungswechsel. Angesichts aktueller Ereignisse passe die Geschwindigkeit auch sonst: »Das eigene Entsetzen wird ständig überboten.«

Zugegeben: Die 144 Verkehrsprojekte der Bundesregierung sind wohl für die Wenigsten mit Lyrik und Poesie verbunden. »Das ist aber ein poetischer Text; er stellt schließlich Realität her«, so Rinck. Bekanntermaßen gehört für sie Lyrik auch ins Sachbuchregal, ihre eigene Poetik teilte sie bereits 2019 im Rahmen der Lichtenberg-Vorlesung in Göttingen. Für manche Zuhörer:innen ist sie damit schon ein vertrautes Gesicht.

Mit Verbrenner in die Unterwelt

Ihre Gedanken zu Autobahnen entfremden die kilometerlangen betonierten Strecken, wecken auf und erinnern, an welche Absurdität dieser Raum grenzt: als »nationales Heiligtum«, als liminaler und eben auch als höllischer Ort, an dessen Regeln sich ohne Hinterfragen gehalten wird. Auch der Sprachgebrauch um Verkehr wird einer Analyse unterzogen: Ausdrücke wie »jemand verunglückt« seien floskelhaft, drücken laut Rinck die Realität nur verworren aus. Mit Wortgewalt und Wortakrobatik rütteln ihre Gedichte an den Normen rund um A2, A3, A4 und so weiter und so fort.

»O Müder, wie müde du bist. Wie kann ich dich erheitern? Darf ich dir von den Amöben berichten? Bitte, Müder, lass mich, lass mich dir von den Amöben berichten«

Begonnen hätten diese Gedanken an einem Augustmorgen, als der Baum vor ihrem Fenster vollkommen stillgestanden habe. Dieser Moment habe sie erschreckt: »Entweder ist die Zeit angehalten, ich träume, ich bin tot… oder was anderes«, so überlegte Rinck. Im Hintergrund habe der Verkehr auf der Autobahn trotzdem nicht nachgelassen. Der Konflikt zwischen Starre und unhinterfragter Mobilität – die etliche Verkehrstote und Straßen, auf denen das vorzivilisatorische Recht des Schnelleren gilt, hervorbringt – sei einer der vielen Anfänge des Projektes gewesen. Der erste Text im Band handelt genau von diesem Beginn, ist damit auch chronologisch der Ausgangspunkt.

Apropos Amöben: Zur Höllenfahrt in an Dante anmutende Tiefen gehört ein großes Ensemble. Nicht nur Amöben und der Müde, auch Seedackel, Algen und Enten begleiten die Sprecherin in der Fahrt durch Jenseitstopographien. Die Enten sind die prominenteste Gruppe der vorkommenden Tiere, der »Entenstaat« eine Parodie des politischen Zeitgeistes, die von Donald Ducks beherrscht wird. »Die Ente fährt den Gabelstapler in den geheimen Garten« liest Rinck, oder spricht auch von der »Regente« – die sondiert für uns die Lage, »oh my Duck! Mit Ritterrasseln, gegürtet zur Unsterblichkeit. Die ewige Ente!« Laut Selbstbeschreibung ist dieser ornithologische Fiebertraum eine Oper. Den Text mittels eines Tenors oder Ähnlichem auszustaffieren war der Lyrikerin aber doch eine Schippe zu viel, zumindest an Albernheit mangle es dem »Entenstaat« auch ohne Chor und Co. nicht.

Liebeserklärung: Ich knote dir Strickleitern

Über den Todestrieb der deutschen Autobahnen und Verkehrsprojekte der Bundesregierung nachzudenken, gelingt Rinck und Bers auf charmante Weise. Bers spricht die Wut, die die Texte auslösen, an: Könne man das als Radikalisierung verstehen? Rinck sieht diesen Prozess eher als »kindliches Erkennen«, als »Klarheit, die durch die Schichten scheint und deren Perspektive man dann nie wieder vergessen kann«.

Das Gefühlsspektrum, welches die Veranstaltung einfängt, geht über Wut und Klarheit noch hinaus. Auch Zärtlichkeit wohnt Höllenfahrt und Entenstaat inne. »Ich werde eine Strickleiter für dich knoten«, so zitiert Bers ihre Gesprächspartnerin. Gegenstück der Beschleunigung sei eben die Zärtlichkeit, sei das Bremsen. Eine Strickleiter für eine andere Person zu knoten, um so der Hölle zu entkommen, klingt beinahe romantisch – und auch wenn es eine ganze Weile dauert, eine Strickleiter zu knüpfen, lädt Rinck mit ihrem Gedichtband dazu ein, mitzumachen. Raus dem Inferno.

Geschrieben von
Mehr von Marie Bruschek
Darf man hier rauchen?
In Göttingen ist Ferdinand von Schirach zu Gast: Im Rahmen des Literaturherbsts...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert