Wir waren an dem Ort, an dem die »einsame Leseangelegenheit maximal sozial wird«. Vom 27. bis 30. März wird es messy in Leipzig. Mit Gastland Norwegen, über die ganze Stadt verteilten Lesungen, der Manga-Comic-Con und Bahnfahrten zwischen ausufernden Kostümen und Luftarmut werden die Besucher:innen der Buchmesse durch das Programm geschleust.
Von Lisa Marie Müller und Felicia Franke
Bild: Lisa Marie Müller
Wir sind hyped, das erste Mal auf der Leipziger Buchmesse zu sein. Die Anreise mit der Bahn ist geprägt von Buchmessenschnack und Stress: Im Bordbistro wird noch schnell ein Buch fertiggelesen, eine Rede vorbereitet und über Outfits sowie Nominierungen diskutiert. In Leipzig selbst liegt Frühling in der Luft, viele Bücher liegen aus, zu denen man sich die Autor:innen und Verlage ansehen kann, verschiedenste Locations in Leipzig veranstalten Lesungen und natürlich, das vielleicht Wichtigste: Die Partys. Wir haben einen Timetable gebastelt, auf dem sich viele Optionen finden. Angefangen am Donnerstag mit der Buchpreisverleihung, vielen Lesungen, Mingelgelegenheiten und optionalen Standbesuchen, hangeln wir uns von Programmpunkt zu Programmpunkt, üben uns in Mut zur Lücke und lernen viel über Drängelmöglichkeiten, ästhetische Standdekoration sowie Foto-Optionen für kostümierte Manga-Comic-Con-Besucher:innen auf dem Messegelände.
»Sehr schnell sehr viel mediale Aufmerksamkeit«
Wer während der Messe nicht in Leipzig ist, schnappt vielleicht trotzdem etwas zum Preis der Leipziger Buchmesse auf: Er wurde dieses Jahr zum 21. Mal in den drei Kategorien Übersetzung, Sachbuch/Essayistik und Belletristik verliehen. Die 506 Einreichungen sind laut der Jury eine »Gegenwartsausgrabung«. Der Zugang zu dieser ersten Veranstaltung auf unserem Timetable ist aufregend und unangenehm: Pressevertreter:innen und ›wichtige‹ Personen drängen sich auf die wenigen Sitzplätze mit guter Akustik und mittelguter Sicht (die Bühne ist zu ebenerdig). Das »Ich habe nur eine Frage« einer Journalistin wird zum eleganten Vordrängelmove. Die Preisverleihung selbst ist gar nicht lang und unaufgeregter als wir. Am Ende gibt es Sekt und Brezeln sowie die Möglichkeit, sich in der Nähe von Autor:innen über ihre Werke zu unterhalten.
In der Kategorie Übersetzung gewinnt Thomas Weiler für seine Übersetzung aus dem Belarussischen von Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten von Ales Adamowitsch, Janka Bryl, Uladsimir Kalesnik (Aufbau 2024). In dem Buch werden werden Zeitzeugenberichte zu den Wehrmachtsverbrechen in Belarus erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Weiler wirkt ehrlich überrascht über seine Auszeichnung und erklärt, er fände es genre-mäßig eine gewagte Entscheidung der Jury. Ihm ist es wichtig, dass die anderen nominierten Bücher nicht vergessen werden, sie hätten ebenso viel Aufmerksamkeit verdient. Die Autorin Irina Rastorgueva mit ihrem Buch Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung (Matthes & Seitz 2024) wird im Bereich Sachbuch/Essayistik ausgezeichnet. In ihrer Rede beschreibt sie die Angst vor Krieg und das nachvollziehbare Bedürfnis, für Frieden kämpfen zu wollen. Man lernt in ihrem Buch über Putins Propagandatechniken und bekommt außerdem einen Comic-Ratgeber für widerständiges Verhalten in Russland mit, der immer wieder lobend hervorgehoben wird und vielleicht der ausschlaggebende Teil des Buches war, der ihr den Preis eingebracht hat.
Im Bereich Belletristik gewinnt Kristine Bilkau mit ihrem Roman Halbinsel (Luchterhand 2025). Auch sie wirkt erstaunt, den Preis zu bekommen und gibt zu, die Tatsache nun erst einmal realisieren zu müssen. In der Welt des Romans spiegelt sich das vergangene Jahrzehnt – eine Zeit voller Krieg, Flucht, ökologischen Krisen und einem zunehmend verrohten öffentlichen Diskurs. Im Mittelpunkt steht eine Mutter-Tochter-Geschichte, in der die Mutter Zuversicht und die Tochter Aufrichtigkeit sucht. Während der Verkündung ist die Stimmung im Publikum eher verhalten und schwierig zu deuten. Wir fragen uns: Ist das immer so? Gar nicht so ein großes Ding? Oder haben die Pressevertreter:innen fest mit anderen Gewinner:innen gerechnet? Wir jedenfalls freuen uns für Kristine Bilkau. Denn, was der Preis verspricht, ist, auch laut der Jury: »Sehr schnell sehr viel mediale Aufmerksamkeit«. Ein Versprechen, das dazu führt, dass sich das Buch sehr viel mehr verkauft als es ohne Preisverleihung der Fall wäre. Wir können bestätigen: Am Sonntag beim Luchterhand-Stand gibt es kein einziges Exemplar der Halbinsel mehr.
Überraschend platt
Nach zwei weiteren Messe-Tagen voller Lesungen, Schlendern und Staunen besuchen wir am Sonntag die Gemeinschaftsbühne von 3sat, ARD und ZDF – der selbstgebastelte Timetable erinnert uns daran, dass dort einige vielversprechende Interviews geführt werden. Zwei Männer sitzen auf der in der Glashalle präsent positionierten Bühne. Um uns herum: schlendernde Besucher:innen, Engel, Jinxx und Elphaba. In einer halben Stunde wollen wir hier Dmitrij Kapitelman sehen, wir sind früher da, denn ein Learning aus dem Messe-Wirrwar ist: Immer mindestens 15 Minuten vorher da sein. Also stellen wir unseren Timetable noch kurzerhand um, sichern uns Sitzplätze für Kapitelman und hören zuerst Tobias Schlegl dabei zu, wie er über seinen Urlaub mit seiner Mutter auf dem Jakobsweg spricht. Seine Erlebnisse und Eindrücke der Reise hat er in dem Buch Leichtes Herz und schwere Beine: Mit Mama auf dem Jakokobsweg festgehalten. Er habe seine Mutter auf diesem Weg »nochmal ganz neu kennengelernt«. Lediglich Banalitäten werden auf der großen Bühne ausgetauscht.
So berichtet der Autor z.B. von seiner weinenden Mutter. Spoiler: Er wusste nicht, wie er mit einer solchen Emotion (angemessen) umgehen konnte. Am Ende wendet sich Schlegl noch ans Publikum, um nach einer Begleitung für seine Mutter zu suchen, die nun häufiger wandern möchte – im Gegensatz zu ihm. Es könnte eine fürsorgliche Geste sein, wenn sie nicht so einstudiert und aufgeblasen wirken würde – wie auch das gesamte Gespräch: Die Fragen des Moderators wirken lediglich wie wahl- und inhaltslose Platzhalter zur Redeaufforderung für Schlegl, der sodann sein Programm abspult. Der Autor spricht mit einem Pathos, der an Selbstbeweihräucherung nur schwer zu übertreffen ist. Wir bekommen einen guten Eindruck vom Autor und seinem Buch und können festhalten: Zumindest die Sitzplätze für den nächsten Programmpunkt konnten wir uns so sichern.

Bild: Lisa Marie Müller
Überraschend tief
Danach schafft ein von der Messearbeit »unehrenhaft« entlassender Autor den »Sprung auf die Bühne«: Dmitrij Kapitelman mit seinem Buch Russische Spezialitäten. Die sehr routinierte Moderatorin – ihr hoher Erfahrungsgrad ist erkennbar an der Positionierung des Mikros am Kinn, sodass es immer den richtigen Abstand zum Mund hat – führt gekonnt durch das exakt 20-minütige Gespräch.
Kapitelman erzählt so lebhaft von den Szenen aus seinem Buch, dass sie an wiedergegebene Filmszenen erinnern. Sein Werk handelt von der osteuropäischen Gemeinschaft in Leipzig im »Staub der Sowjetunion« und vor dem Hintergrund des aktuellen Ukraine-Krieges. Im Zentrum steht die Suche nach einer (politischen) Verständigung zwischen Mutter und Sohn. Der Autor erklärt: »Liebe kann er [der Sohn] nicht politisch umerziehen – weder die Liebe zur Mutter noch die zur Sprache«. Vor uns im Publikum wird viel verständnisvoll genickt. Auf die Frage nach den fantastischen und magischen Elementen im Buch kommt die Antwort, dass es einfach Spaß mache, solche Elemente einzubauen. Außerdem wolle Kapitelman damit die immer wieder (und zu oft) gestellte Frage, wie viel Autobiografisches in einem Buch steckt, umgehen. Verständlich.
Die Partys, die wir ausgelassen haben
Neben dem, was wir in den vier Tagen an Lesungen, Büchern und Verlagen gesehen und kennengelernt haben, ging es uns auch um das Zwischenmenschliche. Wir wollten herausfinden, ob die Partys während der Buchmesse essentiell sind und können sagen: Sind sie nicht. Man kann auch ohne sehr viel mingeln, gratis trinken, rumstehen/anstehen und unangenehmen Situationen beiwohnen. Unsere abschließende Einschätzung zu den Messe-Partys:
- Tropen-Party: Soll sehr gut zum mingeln sein. Bei sechs Grad und mehr als acht Lesungsbesuchen am selben Tag auch entbehrlich.
- Queerparty vom Querverlag: Klingt nett, vor Ort war es sehr leer und trotz spätem Vorbeischauen unsererseits war nichts los auf der Tanzfläche. Die Leute wirkten altersmäßig entweder sehr jung oder wie die Eltern dieser sehr jungen. Reingetraut haben wir uns nicht.
- Fuffifufzich-Konzert im Conne Island: Es gab in Leipzig tatsächlich auch Buchmesse-unrelated Veranstaltungen, die es theoretisch auf unseren Timetable geschafft hätten (wenn wir daran gedacht hätten). Da waren wir auch nicht.
- Clemens Meyer Lesung: Wir können empfehlen, besser nicht hinzugehen. Menschen standen 2,5 Stunden in einer Schlange, um dann im Zweifelsfall auf einer Treppe mit schlechter Akustik Platz zu nehmen.
- Party der Unabhängigen Verlage: War bestimmt nett.
- Samstag als Tag auf der Buchmesse (wichtiger: Vorbereitung auf die Zeitumstellung): Wir haben verzichtet.
Wer also einigermaßen stressresistent in Nahsituationen bei Bahnfahrten ist und den persönlichen Messe-Timetable immer wieder spontan anpassen kann, dem:der sei ein Besuch der Buchmesse wärmstens empfohlen.