Sibylle Berg widmet sich ihrem Lieblingsthema, der Kritik unserer spätkapitalistischen Gegenwartsgesellschaft, nun lyrisch und stellt in ihrem Gedichtzyklus Try Praying fest, dass es vor allem Negatives ist, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Von Franziska Joecks
Was ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält? Sibylle Berg scheint Goethes Frage nun lyrisch beantworten zu wollen. In ihrem ersten Gedichtband Try Praying – Gedichte gegen den Weltuntergang spürt die Autorin, Dramatikerin, Essayistin und seit kurzem auch Politikerin universell menschlichen Gefühlen, Zuständen und Gedanken nach und malt dabei ein gewohnt sarkastisch-pessimistisches Bild, wie man es bereits aus ihrem bisherigen Werk kennt. In ihrer neuen Position als Abgeordnete der Satirepartei Die PARTEI setzt sich die 62-Jährige gemeinsam mit Martin Sonneborn insbesondere für Datenschutz und Privatsphäre ein, eben jene Themen, die sie bereits literarisch in ihren dystopischen Romanen ergründet hat. Thematisch knüpft die Autorin in Try Praying an ihre bisherige Gesellschaftskritik an und widmet sich in den 40 Gedichten des schmalen Bändchens ihren Lieblingsthemen: Kapitalismuskritik, künstlicher Intelligenz, digitaler Überwachung, den sozialen Medien und den Abgründen der menschlichen Existenz.
Auch wenn sie bereits in ihren dystopischen Roman GRM und RCE, die in einem der Musikrichtung Grime ähnelnden, staccatoartigen Stil verfasst sind, ihren Sinn für Sprache und Rhythmik unter Beweis stellt, wagt sich Berg mit Lyrik doch in ein neues Genre vor. Ihrem Stil bleibt sie dabei aber treu. Mit schnörkelloser Sprache und einfachsten Reimen gelingt es ihr, die Themen ihrer Gedichte zu vermitteln, ohne dabei oberflächlich zu sein. Gleiches trifft auch auf ihre besondere Beobachtungsgabe für menschliche und gesellschaftliche Zustände zu, die aufmerksame Lesende ebenfalls bereits aus Romanen wie Vielen Dank für das Leben oder den obig genannten kennen. In Try Praying verweist Berg durch die Darstellung von Einzelschicksalen auf Symptomatisches. So werden zum Beispiel Frau Müller und Herr Schmitt zu Symbolgestalten unter anderem. für die Trostlosigkeit des Alltags, wenn der Job keine Erfüllung bringt, oder auch für die Einsamkeit im Alter, wenn die Kinder aus dem Haus sind und die Ehepartner:innen verschieden sind. Oft steht am Ende die Frage: »War’s das jetzt?« Und dahinter verbergen sich mehrere weitere Fragen, wie: Ist das eigene Leben gelungen? Bin ich glücklich oder erfülle ich bloß gesellschaftliche Erwartungen? Es scheint fast wie ein Apell, wenn diese Fragen immer wieder Ausgangs- wie Endpunkte ihrer Gedichte sind.
Es besteht noch Grund zur Hoffnung
Jetzt bist du Teil von dieser Masse,
Ein kleiner Teil der dummen Welt.
Was sie im Kern zusammenhält.
Ist Hass, Ekel, Neid und Gier.
Des Pudels Kern, das sind bei Berg also vor allem Hass, Ekel, Einsamkeit und Verlust. Try Praying – wörtlich genommen klingt es wie die letzte Hoffnung von jemandem, der schon fast aufgegeben hat. Wer sich auf die kurzen Texte einlässt und zwischen den Zeilen liest, der bemerkt, dass die Autorin doch nicht völlig schwarzzusehen scheint, wenn hinter dem Hass hin und wieder doch noch Zuneigung und Liebe zu finden sind. Gerade in ihrem Sarkasmus und Spott über die spätkapitalistische Gegenwartsgesellschaft blitzen immer wieder, wenn auch zum Teil makabere, Momente der Hoffnung auf. Zum Beispiel wenn nach endlosem Stress und Leiden nur im Tod noch Frieden auffindbar zu sein scheint: »Es kann doch nur besser werden / Was war das für ein Stress auf Erden. / Habt gelitten und gestrampelt, / Und Ruhe jetzt, das sage ich – / Ihr habt genug herumgehampelt.«

Try Praying
Kiepenheuer & Witsch: 2024
112 Seiten,16 €
Gedichte gegen den Weltuntergang – auch wenn der Untertitel eher ironisch zu verstehen ist, so sind Bergs Gedichte doch in vielerlei Hinsicht erheiternd. Indem sie die Einsamkeit, Trostlosigkeit und den Hass herausstellen, die aus einem unerfüllten, in fremden Erwartungen geführten Leben erwachsen. Zum einen blickt man als Lesende:r fast mitleidig auf die lyrischen Figuren, die so oft Trost suchen und dazu auf leeren Materialismus, Konsum oder schnelle Vergnügungen zurückgreifen. Zum anderen fühlt man sich aber auch ein wenig ertappt, lebt man doch aus Bequemlichkeit selbst oft genug in den gleichen Mustern wie die beschriebenen Figuren. Bergs Texte sind ein Appell für das Brechen mit eben jenen Konventionen, fürs Anders- und fürs Mutigsein. Nach der Lektüre hinterlassen sie eine Unruhe und zugleich den Wunsch oder die Hoffnung, ein Leben zu gestalten, das mehr ist als das bloße Erfüllen fremder Erwartungen. Vielleicht ist es dann letztlich doch die Hoffnung, die die Welt im Innersten zusammenhält?