Was passiert, wenn die AfD zur Regierungspartei wird? Was bedeutet das für unsere Demokratie? Wie geht man damit um? Diesen Fragen geht der Politikwissenschaftler Arne Semsrott in seinem Buch Machtübernahme nach. Dabei legt er den Finger tief in die Wunde der politischen Landschaft Deutschlands und lässt seine:n Leser:in oft sprachlos zurück.
Von Lenard Elbrecht
Das Thema ist ein bekanntes wie aktuelles und hat durch die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre noch einmal Nachdruck erhalten. Rechtspopulistische bis rechtsextremistische Parteien sind seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch. Bei den Europawahlen ist die rechte Vereinigung Patriots for Europa als drittstärkste Kraft ins Parlament eigenzogen. Zu jener zählen unter anderem die FPÖ aus Österreich, Viktor Orbáns Fidesz, das Rassemblement National aus Frankreich und die italienische Lega. Letztere stellt mit der ebenfalls postfaschistischen Fratelli d’Italia die italienische Regierung um Giorgia Meloni, während die FPÖ unlängst in Österreich mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Orbán regiert bereits 15 Jahre am Stück in Ungarn und das Rassemblement National erhielt als einzelne Partei die meisten Stimmen bei der Wahl 2024 in Frankreich.
Der Schneeball kommt ins Rollen
Auch über Deutschland schwebt bei den vorgezogenen Bundestagswahlen am 23. Februar ein hellblaues Damoklesschwert. 80 Jahre nach Kriegsende nimmt Semsrott diese akute Brisanz zum Anlass, eine Analyse und Prognose rechter Machthabe mit ihren Ursachen und Folgen zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Autor tritt Semsrott in leitender Funktion für FragDenStaat in Erscheinung. Das ist eine um Informationsfreiheit bemühte Plattform, die neben der Unterstützung bürgerlicher Anfragen an Behörden auch selbst Kampagnen startet und Klagen einreicht. Semsrott knüpft seinen Text an die zahlreichen Demonstrationen im Namen der Demokratie aus dem Frühjahr 2024 an. Er bezieht sich auf das dort viel bemühte Zitat von Erich Kästner über den Rechtsextremismus als zu zertretenden Schneeball, der sonst zwangsläufig zur Lawine werde. Dabei will Semsrott die rechte Gefahr aber nicht als Naturgewalt verstanden sehen, der man ab einem gewissen Stadium wehrlos erliegt. Aus seiner Sicht ist es nie zu spät für Widerstand und das Individuum wie auch die Gesellschaft keineswegs machtlos.

Machtübernahme
Droemer Knaur: 2024
240 Seiten, 22 €
Auch wenn Semsrott über das gesamte Buch hinweg zum Widerstand animiert, entwirft er zuerst ein Szenario rechter bis rechtsextremer Machtübernahme mit all ihrer Bedrohlichkeit. Er setzt den Schneeball behutsam in Bewegung, verfolgt, wie er an Größe gewinnt, und veranschaulicht anhand realer Beispiele, wie die AfD die Demokratie in Deutschland angreifen könnte – und welche einfachen Wege ihr offenstehen, um langfristigen Schaden anzurichten. Dass der Blick dafür seltener auf vergleichbare Parteien im Ausland oder in der Vergangenheit fällt, sondern häufig nur auf das Handeln der etablierten Parteien der letzten Jahren, verstärkt das beklemmende Gefühl. So verweist Semsrott auf die unter dem Namen ›Operation Abendsonne‹ bekannte und gängige Praxis scheidender Regierungen. Dabei werden zum Ende einer Legislatur in etwaigen Ministerien Stellen geschaffen, um Mitarbeiter:innen zu festigen, die die eigenen Vorstellungen vertreten. Schwarz-Rot schuf so 2021 71 Stellen. Als weiteres Beispiel wird durch Semsrott unter Anderem der Zugriff auf finanzielle Mittel der jeweiligen Ministerien angeführt. Die CSU nutzte den Weg über das Verkehrsministerium, in dem unter Verkehrsminister Scheuer Budgets für den Straßenbau bevorzugt nach Bayern gelenkt worden. Wirklich erdrückend wird es, wenn das Gedankenspiel des Autors abgeschlossen ist und sich keine irrwitzige Dystopie ergibt, sondern ein Bild entsteht, das erschreckend gut mit den aktuellen Zuständen in Argentinien unter Machthaber Milei vergleichbar wäre.
Widerstand beginnt beim Schneeball
Semsrott zehrt von seinen Erfahrungen in der täglichen politischen Arbeit, lässt aktuelle Einblicke in den Alltag demokratischer Organisationen und Opfer rechter Politik einfließen und übt scharfe Kritik, wenn er sich an die verschiedenen Organe der Demokratie und Gesellschaft richtet. Gewerkschaften, Justiz, Medien, Regierung, Opposition und weitere rücken in den Betrachtungsmittelpunkt. Stetig wird der Mythos der Naturgewalt bekämpft, mögliche Gegenmaßnahmen und Anhaltspunkte werden formuliert. Wie in Ratgebern folgen unter der Überschrift »Was tun?« zum Abschluss jedes Kapitels zusammenfassende Listen der Schlüsse und Anhaltspunkte, an denen man sich als Einzelperson bzw. als Gesellschaft orientieren kann, um zur Sicherung der Demokratie beizutragen. Besorgniserregende Fälle demokratischen Versagens werden wiederholt vorgeführt: Kemmerichs Pakt mit der AfD im Thüringer Landtag, die Geheimtreffen um ›Remigrations‹-Fantasien der ›Potsdamer Runde‹ 2023, die ›Issue ownership‹ der AfD in der politischen Debatte und die diesem Phänomen mehr und mehr erliegenden restlichen Parteien, die reale Gefahr rechter Hetze und Gewalt. Semsrott stellt seine Standpunkte deutlich heraus und lenkt den Blick immer wieder auf die Grundprinzipien des demokratischen Lebens. Das macht er in fast jedem Kapitel auf ähnliche Art, dennoch wird es nicht repetitiv, sondern verfestigt die Empfehlung, aktiv zu werden, entsprechend seiner Anleitung zum Widerstand.
Nicht alle seiner Ideen und Forderungen wirken dabei in Anbetracht der aktuellen Lage realistisch umsetzbar und wenn man sich durch die Kapitel arbeitet, erliegt man beinahe dem Trugschluss der Lawine. Der Autor bemerkt selbst: »Ich habe oft den Eindruck, alle Hoffnung verloren zu haben. Dann gibt es wieder einen politischen Skandal, und ich bin davon enttäuscht und merke: Offenbar hatte ich doch noch Hoffnung.« Und so ist Machtübernahme anstrengend zu lesen. Immer wieder möchte man das Buch weglegen. Die brutalen Bestandsaufnahmen deutscher Politik, die real erscheinenden Aussichten einer rechten Regierung, die geschilderten Strapazen demokratischer Arbeit oder die langen idealistischen Listen möglicher Gegenmaßnahmen lassen den Kopf regelmäßig schwer werden. Dennoch wird man gepackt. Semsrott zeigt die Entwicklungen und Schwächen nationaler und globaler Politik anhand von Lebensrealitäten auf. Er reicht dem:r Lesenden die Hand dabei, aber zieht sie:ihn dann auch in die Verantwortung. Das geschieht auf eine Art und Weise, die beim Lesen Mut macht und den Blick nach oben richtet, ohne die Komplexität und Relevanz herunterzuspielen. Machtübernahme verpflichtet und entzaubert den überwältigenden Anschein der Bedrohung von rechts, ohne sie herunterzuspielen und löst so das im Untertitel Anleitung zum Widerstand gemachte Versprechen ein. Das Buch schafft sowohl Zugang als auch eine Übersicht zum Widerstand. Semsrott weist auf die perfiden, leicht ausnutzbaren Strukturen des Systems hin, aber liefert ebenso Anhaltspunkte, sich zu wehren. Die Lektüre ist grausam, aber ebenso grausam notwendig.