Die Fähren sind schon seit Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Was machen die Inselbewohner:innen in der Hochsaison ohne den Tourismus, der ihr Leben so sehr geprägt hat? Thea Mengeler beschreibt in ihrem Roman Nach den Fähren einen Sommer ohne Tourist:innen auf einer einst begehrten Insel. Doch in dieser Saison kommt alles anders.
Von Rajeshwari Patil
Mit ihrem Debütroman connect (Leykam, Februar 2022) hat die junge Krefelder Autorin Thea Mengeler eine große Leser:innenschaft für sich gewonnen. Darin erzählt sie die Geschichte einer Sekte aus der Sicht einer überzeugten Anhängerin und schildert somit die Perspektive derer, die von der Gesellschaft als gefährlich oder als Außenseiterfiguren gesehen werden. Sie wurde dafür gelobt, sich auf nonchalanter Weise mit hochaktuellen Themen zu beschäftigen, die den Leser:innen als relevant erscheinen. In ihrem zweiten Roman Nach den Fähren geht sie diesen Weg weiter. Sie schreibt über die Auswirkungen des Tourismus auf das Leben der Inselbewohner:innen, die seit Generationen mit ihren Gasthäusern, Restaurants, Souvenirläden und vielen anderen Dienstleistungen den Urlaub anderer gestalten und mit den Tourist:innen stets die eigene Heimat teilen müssen. Auch hier nimmt sie die Perspektive der Minderheit ein und orientiert sich an Fakten zum Übertourismus und seinen kapitalistischen Zwecken, die in der Rezeption bewirken, differenziert über den eigenen Urlaub nachzudenken.
Routine, Hoffnung und Warten
Eine der Tourist:innenunterkünfte auf der Insel ist der Sommerpalast. Ursprünglich ein Ferienhaus für den Adel, wurde es später in ein Hotel umgewandelt. Mit dem Aufschwung des Tourismus wurde das Hotel selbst zu einer Sehenswürdigkeit, aber heute wohnt hier nur noch eine einzige Person: der Hausmeister. Er steht jeden Morgen auf, frühstückt »zwei Scheiben geröstetes Brot, eine Tomate aus dem Garten und ein Glas Tee«, alleine, unter dem einzigen Sonnenschirm am leeren Pool. Jeden Vormittag putzt er zwei Zimmer, damit das Hotel für potenzielle Gäste bereit ist. Jeden Tag das Gleiche, obwohl die Urlauber:innen schon lange nicht mehr kommen.
Wie der Hausmeister mit seinen Routinen, unterstreichen auch andere Figuren die Tristesse und Gleichförmigkeit: Eine Doktorin geht jeden Tag an den Strand und liest zum Einschlafen immer dieselben drei Bücher. Die Frau des Generals pflegt ihren dementen Mann und schickt ihn jeden Tag mit dem Pferd um die Insel. In den ersten Kapiteln geht es ausschließlich um den Alltag der Figuren, der durch das Ausbleiben des Tourismus eintönig geworden ist. Von Seite zu Seite erfährt man jedoch Neues über die Figuren. Beispielsweise kam die Doktorin selbst einmal als Touristin auf die Insel und verliebte sich so sehr in sie, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehrte. Man erfährt, wie sehr die Frau des Generals ihren Mann innerlich hasst und eigentlich die Insel schon längst verlassen wollte. All diese Hintergründe erhalten die Spannung im Roman aufrecht und sorgen dafür, dass sich die Monotonie des Alltags der Figuren keineswegs in Mengelers Schreibstil einschleicht. Im Gegenteil: Die Spannung erlaubt den Leser:innen nicht, das Buch aus der Hand zu legen.
Die Geschichte nimmt eine Wendung als ein Mädchen namens Ada plötzlich im Sommerpalast auftaucht. Sie stellt dem Hausmeister Fragen über seine Vergangenheit, über die Insel, wie sie früher war. Themen, über die der Hausmeister schon ewig nicht mehr nachgedacht hat. Er erzählt ihr von seiner Kindheit, von seiner Familie, von der Insel, wie er sie als Kind erlebt hat. Er erzählt ihr vom Tourismus auf der Insel, von den Tourist:innen. Und er erzählt ihr, wie es war, als die Fähren das erste Mal wegblieben. Schließlich stellt Ada die entscheidende Frage: »Wem gehört die Insel?«. Und so plötzlich, wie sie aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder. Nun steht der Hausmeister mit dieser Frage allein da und die Suche nach Antworten, auf diese und viele andere Fragen, die sich daraus ergeben, beginnt.
Die Frage nach der eigenen Existenz
Der Roman lebt von der Entwicklung der Charaktere und enthüllt nach und nach die Gründe, warum die Insel Tourist:innen anzog und warum sie nun ausbleiben. Mengeler bietet den Leser:innen zwar keine direkten Antworten an, aber bringt sie zum Nachdenken. In diesem Sinne weist sie auf die kapitalistischen Zwecke des Tourismus hin und beschreibt, wie die Insel durch den Fokus auf Gewinnmaximierung über mehrere Generationen hinweg ihren natürlichen Charme verliert. Als die Doktorin eines Tages am Strand liegt »sieht [sie] die Insel vom Wasser her, sieht die dicht an dicht um die Küste gedrängten Häuser, sieht die Hotels, die lange Schatten über den Strand werfen, sieht dieses zugebaute, verbaute Stück Land« und denkt sich »wäre sie eine Touristin, sie würde auch nicht mehr kommen.« So werden sie und alle anderen Figuren durch ihre alltäglichen Erlebnisse und Beobachtungen gezwungen, über ihr eigenes Leben und die Vergangenheit der Insel nachzudenken. Mengeler entwirft dabei drei Zeitebenen: In Form einer fortlaufenden Geschichte stellt sie den gegenwärtigen Zustand der Insel ohne Tourist:innen dar. Die vergangene, vom Tourismus überflutete Insel zeigt sie in einzelnen kurzen Rückblicken in Kapiteln wie „Einige Verluste“. Die noch frühere, so genannte natürliche Insel in ihrer vollen Pracht macht sie in Form von Erinnerungen der Figuren anschaulich. Die Vor- und Nachteile jeder zeitlichen Episode werden im Laufe des Romans geschildert.
Jede Figur hat ihre eigene, unabhängige Lebensgeschichte und doch sind sie alle miteinander verbunden: durch die Insel. Es geht hier um menschliche Emotionen. Mengelers Schilderungen der Einsamkeit und der seelischen Schmerzen ihrer Figuren sind berührend und ziehen die Lesenden näher an die Handlung heran. Aus dem Hausmeister, der keine Fragen stellt und stumpf auf die Tourist:innen wartet, wird am Ende ein neugieriger Sammler, der es sich zum Lebensziel macht, die wahre Natur und den Charme der Insel wiederherzustellen. Die Doktorin, die immer die gleichen Bücher liest, um einzuschlafen, wird im Laufe des Romans selbst zur Schriftstellerin, die sich schreibend mit ihrem Leben und ihrer eigenen Existenz auseinandersetzt. Die Frau des Generals, die immer von ihrem Mann abhängig war, wird zu einer unabhängigen Frau, die versucht, ihren Jugendtraum zu verwirklichen, indem sie sich vornimmt, die Insel endlich zu verlassen. Und schließlich werden die Inselbewohner:innen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, die sich ihre Insel und damit ihre gemeinschaftliche Lebensgrundlage zurückerobert.
Fragmentarische Entfaltung von Ereignissen
Statt längerer Kapitel bevorzugt Mengeler kleinere Abschnitte, in denen sie das Geschehen um die Figuren und ihre Gefühle schildert. Sie betitelt jeden Abschnitt mit dem Namen des Ortes, an dem sich die Handlung gerade abspielt, zum Beispiel »Der Sommerpalast«, »Apartment 3B«, »Das gelbe Haus« usw. Der fragmentarische Aufbau erleichtert die Lektüre, da man sich nicht in allzu langen Kapiteln verliert. Dies wird auch durch die Sprache des Romans deutlich. Mengeler verwendet einfache Sätze. So erreicht dieser Roman Leser:innen auf direkte Art mit der gleichen Wucht der Erkenntnis.
Es gibt auch Abschnitte mit den Titeln »Einige Verluste« und »Einige Übriggebliebene«, die speziell dem Tourismus gewidmet sind. Besonders berührend sind die Passagen über den Verlust, den das Ausbleiben des Tourismus mit sich bringt. »Was verloren geht ist die Enge. Das dicht an dicht am Strand liegen. (…) Das sitzen auf vollbesetzten Terrassen. Das wohnen in ausgebuchten Hotels. (…) Das Anstehen… Was verloren geht ist die Nähe.« Einerseits verleihen diese poetisch geschriebenen Segmente dem Text eine gewisse Nostalgie, andererseits gibt es auch Passagen, die den Verlust von Plastik am Strand, im Meer, auf der Insel beschreiben, über die man als Leser:in nicht unbedingt traurig ist.
So nimmt der Roman Stellung zu beiden Seiten des Tourismus, indem er Nostalgie und Sehnsucht nach dem Tourismus kreiert, im nächsten Moment aber auch die Nachteile des gleichen beschreibt. Dadurch gelingt es Mengeler, eine Ambivalenz gegenüber dem Thema Tourismus herzustellen, die in den Leser:innen nachhallt. Nach den Fähren ist ein Roman, dem es gelingt, Fiktion und aktuelle politische Themen zu verbinden. Thea Mengeler schafft es, die Leser:innen emotional zu berühren und sie dabei nonchalant zum Nachdenken über das eigene Leben, die Gesellschaft und den Tourismus anzuregen.