Feel, don’t tell

Benedict Wells begibt sich auf unbekanntes Terrain. Statt eines belletristischen Werkes ist mit seinem neuesten Buch Die Geschichten in uns ein autobiografisches Sachbuch entstanden. Sympathisch und ehrlich erzählt Wells von den Höhen und Tiefen seines persönlichen Weges zur Lebenserfüllung: dem Schreiben.

Von Sidney Lazerus

Bild: Via Pixabay, CCO

Der deutsch-schweizerische Autor Benedict Wells, bekannt und erfolgreich mit Romanen wie Vom Ende der Einsamkeit oder seinem Coming-of-Age-Roman Hard Land, gewährt in seinem ersten nicht fiktionalen Buch Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben einen Blick in seinen persönlichen Werdegang, seine Kindheit und den Hintergrund seines Traums vom Schreiben. Daraus besteht der erste, autobiografische Teil. Im zweiten, deutlich längeren Teil des Buches geht es um das Schreiben als praktische Tätigkeit. Wie entsteht ein Roman? Wie kreiert man glaubwürdige Figuren und wählt die richtige Stimme für die eigene Geschichte? Wie gelingt es, fesselnd zu schreiben? Diesen und weiteren Fragen geht Wells auf unterhaltende und eingängige Art und Weise nach.

Authentisch erzählt Wells auch über seine anfänglichen Fehler beim kreativen Schreiben. Seine offene Intention: Er möchte das weitgehend herrschende, aber beschönigte Bild erfolgreicher Autor:innen als Genies korrigieren: Auch heutzutage berühmte Autor:innen mussten zunächst zähe Phasen überwinden, unzählige Absagen und niederschmetternde Kritik einstecken, so seine Botschaft. Das Wichtige ist laut Wells: Bloß nie aufgeben. »Das Einzige, was man selbst in der Hand hatte, war das Durchhalten. Weshalb in kreativen Prozessen ein simpler, fast kindischer Trotz manchmal das Wichtigste sein kann.« Der Enthusiasmus für die eigene Geschichte sei das, was einen trotz Frustration und Selbstzweifel durchhalten ließe.

Ein »Flüchtling vor der Vergangenheit«

Emotional berührend ist vornehmlich der erste Teil des Buches, in dem Wells auf etwa 100 Seiten seine persönliche Geschichte teilt. In der dritten Person schreibt er über den kleinen lesebegeisterten Jungen, der ihm heute wie jemand anderes erscheint, legt offen, dass seine Kindheit ein intimes Thema für ihn ist, das er fürchtet. Daher streift er diesen Lebensabschnitt nur, um den Leser:innen seinen Lebensweg zum Schreiben nachvollziehbar zu machen.

»Es werden nur kurze Bleistiftskizzen, kein farbiges Bild, keine Autobiografie. Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch immer keine Sprache für den Jungen, nur einen distanzierten Ton.«

Trotz dieser bewahrten Distanz bewegen die Zeilen, die entworfenen Bilder und Situationen tief. Wells erzählt nahbar von seinem Aufwachsen in verschiedenen Heimen, von den Schwierigkeiten zuhause. Vom frühen Verstehen von Büchern als Trostspender und Retter in dunklen Momenten. Von der durch Identifikation kurzzeitig ermöglichten Flucht aus dem realen Alltag in das Leben seines literarischen Helden Peter Parker. Man spürt in den feinfühlig abgestimmten Worten die tiefe Dankbarkeit Wells für die kleinen, glücklichen Phasen, die Normalität vorgaben.

Die Entdeckung einer neuen Sprache

Um sich ganz seinem Berufswunsch vom Schriftsteller widmen zu können, entschied sich Wells trotz der in seinem Umfeld vielfach geäußerter Skepsis gegen ein Studium des Kreativen Schreibens, gegen den »sicheren« Weg, und hält sich mit verschiedenen Nebenjobs über Wasser. Verletzlich und ungefiltert stellt er seinen Weg bis zur Gegenwart dar. Dazu gehören die oft zwangsläufige Einsamkeit des Autor-Daseins, Jahre der Verzweiflung, aber ebenso Erfolge, wie der glückliche Moment, in dem ihm Daniel Keel, der damalige Verleger von Diogenes, mitteilt, dass er seinen Roman Becks letzter Sommer aufnehmen möchte und er so endlich einen Fuß in die Tür des oft undurchsichtigen Literaturbetriebs bekommt. Und vor allem betont Wells seinen eigentlichen, inneren Beweggrund für das Schreiben: Endlich eine Sprache für die eigenen, chaotischen und oft verdrängten Gefühle zu finden.

Benedict Wells
Die Geschichten in uns
Diogenes: 2024
400 Seiten, 26 €

»Erst in der Distanz, in der Umwandlung in Literatur kommen wir zum Atmen. Oft liegt ein Trost darin, unsere Erfahrungen in ein fremdes Gewand zu kleiden und so zu kontrollieren. […] Das Erfundene als Schutzraum.«

Um Geschichten authentisch zu gestalten, sei es nicht so wichtig, dass man das Erzählte selbst erlebt habe, das transportierte Gefühl aber sollte man selbst empfunden haben. Nur so erreiche man, dass auch die Leser:innen emotional beteiligt sind. Zwar habe jede:r einzigartige Erfahrungen und Gründe, aus denen er:sie ein Gefühl empfinde, aber die Gefühle selbst, wie Leid, Wut, Trauer, Einsamkeit aber auch die Liebe, seien universell. So ist vornehmlich das Ungesagte, der Subtext hinter den Geschichten bedeutsam. Wells schafft in Die Geschichten in uns durch seinen empathischen Schreibstil genau dies: Gefühle bei seinen Leser:innen auszulösen, anzusprechen oder sie in Erinnerung zu rufen. Er beweist mit seinen Worten und seinen eigenen, im Buch angerissenen Geschichten gerade diese Universalität der menschlichen Gefühle.

»Im besten Fall fühlt man sich in der Geschichte von anderen verstanden, so wie diese sich umgekehrt von einem gesehen fühlen. Wir reden von uns und meinen die anderen, wir sehen die anderen und erkennen uns selbst.«

Weisheiten zum Erzählen von Geschichten

Durchgängig unterhaltend bleibt Wells Werk auch durch seinen Humor. Schon der erste Satz zaubert den Leser:innen ein Schmunzeln ins Gesicht: »Dieses Buch ist der gescheiterte Versuch, erst mal kein Buch mehr zu schreiben.« Ferner bringt der Autor zahlreiche gut ausgewählte Zitate und Werke von anderen Autor:innen an, gibt passende Leseempfehlungen zum Thema Schreiben, Kunst und Kreativität, insbesondere im zweiten, theoretisch angelegten Teil des Buches. Hier führt Wells die einzelnen Phasen des Schreibprozesses bei einem Roman aus, angefangen bei dem »Funken«, als Impuls für eine neue Story, der vom Zeitpunkt des Auftauchens an – wie wohl auch der Funke für Wells eigenes Buch – innerlich darauf drängt, verwirklicht zu werden. Denn »Kunst entsteht aus Notwendigkeit.« So könne sowohl eine Erfahrung, ein Gefühl, ein Bild, ein anderer Mensch, eine Prämisse, ein tiefer Wunsch, aber genauso auch etwas ganz anderes der Keim für eine Geschichte sein. In dem sensiblen Zustand des Suchens nach Ideen kommen sie manchmal von alleine: Jedes Gespräch, jeder Ort könne ein Wink sein. Besonders Stephen Kings On Writing (dt. Das Leben und das Schreiben), das auch ihm als Inspiration für sein Buch diente,legt Wells Anfänger:innen des kreativen Schreibens nahe. Trotz der Dichte und Tiefsinnigkeit des vermittelten Wissens, liest sich Die Geschichten in uns durch die harmonisch arrangierte Verknüpfung von Theorie und persönlichen Erfahrungen des Autors flüssig und lässt sich leicht verstehen.

Nachfolgend stellt Wells seinen Leser:innen in vielen kleinen Kapiteln hilfreiche Werkzeuge für das Überarbeiten eines Textes vor. Es wird etwa deutlich, warum es unmöglich ist, eine Story, genauso, wie man sie im Kopf bunt vor Augen hat, schwarz auf weiß aufs Papier zu bringen. Inwiefern fiktionale Geschichten ein Eigenleben entwickeln oder warum das Verdichten so wichtig ist, auch wenn es schmerzhaft ist, eigene »Darlings«, d.h. liebgewonnene Passagen, wieder aus dem Manuskript zu streichen, wird ebenfalls erläutert. Wells hält jedoch ausdrücklich fest: So etwas wie eine Erfolgsformel, ein linearer Weg für das Schreiben, existiert nicht. Jede:r sei individuell, habe eigene Schreibansätze und -rituale, die für sie:ihn funktionieren, genauso wie jede Geschichte andere Bedürfnisse habe. Die launenhafte, kindliche Fantasie mache neben dem lernbaren Handwerk ebenfalls einen wichtigen Teil des Schreibens aus, bleibe aber unberechenbar. Am Ende seines Buches gewährt Wells einen Blick in die eigene »Werkstatt«, zeigt z.B. Textstellen aus der frühen Fassung von Vom Ende der Einsamkeit und scheut sich nicht, anhand dieser zu verdeutlichen, welche grundlegenden Fehler er heute erkennt und warum diese wichtig sind, um sich weiterentwickeln zu können. Auch wenn man seine Romane nicht gelesen hat, kann man seiner Analyse problemlos folgen, sodass das Buch auch Erstleser:innen von Wells ans Herz zu legen ist.

Die Kunst des empathischen Schreibens

Wells Buch ist schließlich selbst ein wahrer Darling, der aber zweifelsfrei im Bücherregal stehen bleiben darf, und den man immer wieder zum Nachschlagen in die Hand nehmen kann. Der Autor beweist, dass er die Fähigkeit hat, sich empathisch in seine Leser:innen hineinzuversetzen und gleichzeitig selbstkritisch eigene Sicht- und Herangehensweisen zu hinterfragen. Auf beeindruckende Weise schafft er es, das eigene Schreiben und die normalerweise größtenteils intuitiv ablaufenden Entscheidungen während des Schreibprozesses mit professionellem Abstand zu reflektieren und lässt dennoch seine persönliche Note mit in den Text einfließen. Eindringlich ermutigt er, der inneren Leidenschaft zur Kunst zu folgen, statt durch mangelndes Selbstbewusstsein, Angst vor Misserfolgen oder dem unzugänglichen Literaturbetrieb in das quälende Dasein der »Schattenkünstler:innen« abzurutschen. Mit dem Zuschlagen des Buches bleibt der starke Eindruck seiner Faszination für das Erzählen von Geschichten zurück. Diese werden aus dem tiefsten inneren Gefühl geboren und sorgen dafür, sich im eigenen Menschsein nicht mehr allein zu fühlen – die Geschichten in uns.

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