Zeit der Zäune begleitet Menschen auf der Flucht. Was bleibt vom Leben, wenn Zäune und Grenzen das Leben bestimmen? Mit klarem Blick und in eindringlichen Begegnungen zeigt Katja Riemann, wie Kreativität und Menschlichkeit inmitten von Not und Unsicherheit überdauern.
Von Andrea Meyer
Zu einer Person, die fliehen muss, wird man schnell. Manchmal entscheidet ein einziger Tag, ob das eigene Zuhause noch sicher ist oder nicht – ein eindringliches Beispiel dafür ist der 24. Februar 2022 in der Ukraine. Menschen machen sich auf, durchwandern ein Land, gehen über Grenzen, werden zu Flüchtenden, zwischen den Zäunen der Camps zu ›den Flüchtlingen‹. Wenn in den Nachrichten von ihnen die Rede ist, sieht man sie oft gar nicht genau, nur eine Masse von weißen UNHCR-Zelten, eingezäunt, mit einer Drohne gefilmt, von oben – weit weg. In ihrem neuen Buch Zeit der Zäune. Orte der Flucht verweigert sich Katja Riemann bewusst dieser distanzierten Perspektive. Nicht über, sondern mit Menschen möchte sie reden. In der Begegnung mit Fliehenden, humanitären Helfer:innen und Künstler:innen erzählt sie, wie diese ihr Leben im Interim der Camps kreativ gestalten.
Von Moria bis al-Azraq – Von Mensch zu Mensch
Als preisgekrönte Schauspielerin ist Riemann bekannt aus dem Tatort oder Fack ju Göthe. Mit Zeit der Zäune veröffentlicht die auch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete UNICEF-Botschafterin ihr drittes Buch. Sie berichtet sowohl aus offiziellen Lagern wie Moria (Griechenland), Al Azraq (Jordanien) und Sharya (Irak) als auch aus inoffiziellen Camps in Bosnien-Herzegowina und Marokko. Schon im Vorwort ist sich Riemann dabei ihrer Position als Außenstehende bewusst. Bei einer Begegnung in Griechenland fragt sie: »Ich kenne die Regeln nicht, bringen die Eingeladenen trotzdem etwas mit?« und »Darf man als weiße, privilegierte Europäerin in Kara Tepe mit afghanischen Mädchen Seil springen? Ich weiß es nicht. Vermutlich nicht, doch es ist passiert, und wir erlebten gemeinsame Freude für einen Moment.«
Diese reflektierte Haltung bildet zusammen mit dem genuinen Interesse Riemanns am Leben der Menschen die Grundlage ihrer Geschichten. Nahbar erzählt sie von Yaser, einem Geflüchteten, der im ReFOCUS Media Lab auf Lesbos Filmtechniken erlernt, von Haiders Gemüsegarten im Irak, von zwei verfolgten, iranischen Künstlerinnen im Athener Camp. Gegen das Von-oben-weit-weg-eine-Masse-an-Zelten zeichnet Zeit der Zäune persönliche Bilder von Nik, Yaser, Sonia, Douglas, Nazanin, Aziz, Petra und Karin (Namen geändert), Mo, Haider, Zlatan, Jawara, Maira, Van und Serkan. Durch die zwischenmenschlichen Begegnungen hält das Buch den Leser:innen ihre von den Medien beeinflusste Perspektive auf Geflüchtete vor Augen – ohne dabei belehrend zu wirken.
Die Macht des Ausdrucks
Vor allem wendet sich die Autorin immer wieder ihrer Herzensangelegenheit, dem Schauspiel, zu. Wenn sie von Projekten wie Walk with Amal oder einem Kurzfilmdreh von Yaser erzählt, schafft Riemann es, das Potential von künstlerischem Ausdruck aufzuzeigen. Der Workshop beispielsweise, den sie selbst in Moria unterrichtet, nimmt Leser:innen mit in die Schauspielübungen und demonstriert deren befreiende Wirkung. Obwohl das Buch realistisch bleibt im Wissen, dass Kunst nicht in der Position ist, die Welt zu verändern, vermitteln die Erzählungen doch ein eindrückliches Bild von der Macht des Ausdrucks und der Gemeinschaft, die durch künstlerische Projekte geschaffen werden kann.
Brutal ehrlich – bewusst feinfühlig
Zwar fokussiert Riemann die bereichernden Möglichkeiten von Kunst und Kreativität im Interim, verfällt aber keineswegs in Schönfärberei. Hoffnungen, Träume und Gemeinschaft lässt Zeit der Zäune genauso zu wie Schmerz, Wut und Ohnmacht. In feinfühligen Passagen, in denen Riemann unvorstellbar schreckliche Erfahrungen ausspricht, vermittelt das Buch die schlimmen Umstände, ohne Leid zur Sensation zu machen. Genauso durch den brutal ehrlichen und derben Ton: »Scheiße und Pisse und schmutziges Wasser rinnen nur so heraus, verfärben sich grün, gelb, braun.« Mit der Unmittelbarkeit des Riemann’schen Erzählens erschafft Zeit der Zäune einen gleichzeitig intimen, aber auch informierenden Einblick in das Leben im Interim. Riemann reichert ihre Erzählung mit einer Vielfalt von Textformen wie einem Brief, einem Drehbuch und mehreren Interviews an. Vor allem letztere bieten den Leser:innen zusätzlich zu den persönlichen Eindrücken der Autorin wertvolles Wissen zu Themen wie Gewaltforschung, Asylrecht und NGO-Arbeitsprozessen.
Mit ihrem neuesten Werk schafft es Katja Riemann, ehrlich und intim das kreative Schaffen fliehender Personen, humanitärer Helfer:innen und Aktivist:innen darzustellen. Zeit der Zäune hinterfragt hartnäckige Vorurteile über flüchtenden Personen, informiert klar über die Situationen in den Camps und erzählt bewegend von Begegnungen zwischen Menschen – trotz der Zäune.