Für seinen Debütroman Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art erhielt Matthias Gruber den Rauriser Literaturpreis 2024, doch auf den ersten Blick wirkt der Roman bloß wie eine verdrehte Arielle-Geschichte. Erst nach und nach wird deutlich, dass die Protagonistin Arielle nur wenig mit der kleinen Meerjungfrau gemeinsam hat.
Von Malin Friese
Wer kennt sie nicht: Arielle, die kleine Meerjungfrau und berühmte Disney-Prinzessin mit ihren roten Haaren.Die 14-jährige Arielle aus Matthias Grubers erstem Roman Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art besitzt dagegen weder einen Fischschwanz noch schöne, lange Haare. Stattdessen hat sie aufgrund eines Gendefektes keine Schweißdrüsen, verstümmelte Zähne und kaum Haare auf ihrem blassen Kopf. Damit entspricht sie nicht dem Schönheitsideal der fiktiven Social-Media-Plattform FireFly, auf der Arielle gerne, wie ihre beste Freundin Yasmin, ein schönes, erfolgreiches Profil anlegen würde. Doch dann findet Arielle auf einem alten Handy Fotos von einem hübschen Mädchen namens Pauline und lädt diese auf FireFly in ihrem Profil hoch. Von einem Tag auf den anderen bekommt Arielle all die positive Aufmerksamkeit und die Wertschätzung, nach der sie sich schon ihr Leben lang gesehnt hat. Es bleibt aber das offensichtliche Problem: Das Profil ist fake. Selbst ihr heimlicher Schwarm Erich interessiert sich nur für sie, weil er sie für Pauline hält. Von nun an folgt eine Katastrophe auf die nächste.
Der Roman spielt in einer unbenannten Stadt, deren Mittelpunkt ein Müllplatz ist, auf dem Arielles Vater arbeitet und ihr homosexueller und daher auf anderer Ebene von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffene Freund Aljosa wohnt. Dort zwischen den Resten vergangener Leben verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit und kann so ihrem Alltag entfliehen, denn ihre Lebensumstände sind alles andere als angenehm. In der Stadt ist Arielle nämlich der brennenden Hitze ausgesetzt, die für sie aufgrund ihrer fehlenden Schweißdrüsen kaum auszuhalten ist. Nur unter Wasser im Schwimmbadbecken, das ihr in der Stadt eine kurze Erholungspause gewährt, fühlt sie sich wirklich wohl. Aber da sie keine Meerjungfrau ist, kann sie nicht lange unter Wasser bleiben.
Die einsame Außenseiterin
Da der Roman aus Arielles Perspektive geschrieben ist, bekommt man als Leser:in hautnah mit, was die Protagonistin erlebt und wie sie aufgrund ihrer negativen Sichtweise immer das Unschöne an Orten und Menschen wahrnimmt. Auf der emotionalen, tieferen Ebene verharrt das Erzählen allerdings in einer narrativen Distanz, die verdeutlicht, dass Arielle sich die meiste Zeit über ihrer eigenen Gefühle, Gedanken und Wünsche nicht bewusst ist und sie somit auch ihre Erlebnisse nicht richtig verarbeiten kann. Dies ist eine gut gewählte Erzählweise, da Arielles Wahrnehmung überzeugend und nachvollziehbar dargestellt wird, auch wenn dies kein emotionales Mitempfinden ermöglicht. So zeigt die narrative Distanz in vielen Szenen, dass Arielle von anderen Menschen kaum beachtet wird, erst recht nicht von ihrem heimlichen Schwarm Erich, der nur Pauline Beachtung und Likes schenkt.
Als Arielle die verdrehte Situation mit Erich zu viel wird, will sie das Fake-Profil von Pauline löschen, doch dann erfährt ihre psychisch labile Mutter davon und nutzt ihre Reichweite als Pauline für den Verkauf ihrer Kosmetikprodukte. Da weder ihr Vater noch ihre Mutter genügend Geld verdienen und kurz vor dem finanziellen Ruin stehen, bleibt Arielle nichts anderes übrig, als ihrer Mutter zu helfen. Zusammen arbeiten sie jeden Tag daran, mehr Follower auf FireFly zu erlangen und den blauen Haken zu bekommen, der die Gültigkeit ihres Profils beweisen würde. Auch wenn die Familie mit ihrem Vorhaben scheinbar Erfolg hat, ahnt man als Leser:in bereits zu Beginn, dass das Ganze kein gutes Ende nehmen wird.
Eine wichtige Schlüsselszene für den Roman ist, als Arielle in einem Naturkundemuseum den Ichthyostega in einem Film sieht, das erste Lebewesen, das das Wasser verlassen hat und an Land gekommen ist. Die Protagonistin fühlt sich augenblicklich mit diesem blassen Wesen verbunden, da der Ichthyostega als Einziger aufgrund seiner physischen Andersartigkeit seine gewohnte Umgebung verlassen musste und deshalb zur Einsamkeit gezwungen war. Trotz der emotional distanzierten Erzählweise wird durch den Dialog zwischen Arielle und ihrer besten Freundin Yasmin deutlich, wie sich die Protagonistin fühlt: »Irgendjemand muss doch der Erste gewesen sein. Einer kommt zur Welt und ist anders als alle anderen. Und dann ist er ganz allein da draußen.« Auch wenn ihre Freundin sie nicht versteht, lässt dieser Gedanke Arielle nicht mehr los.
Evolution üben
Die Hinweise auf Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau finden sich überall im Roman wieder. In dieser ursprünglichen Geschichte, die nur wenig mit der Disney-Version gemeinsam hat, heiratet der Prinz eine andere, weshalb die kleine Meerjungfrau ihren Pakt mit der bösen Meerhexe nicht erfüllen kann und sterben muss. Ihre Schwestern wollen ihr Leben retten und tauschen deshalb, im Zuge eines weiteren Pakts mit der bösen Meerhexe, ihre wunderschönen Haare gegen ein Messer ein, durch das die kleine Meerjungfrau ihr Leben mit dem des Prinzen eintauschen kann. Doch sie bringt es nicht über sich, den Prinzen zu töten, weshalb sich die kleine Meerjungfrau am Ende in die tosenden Wellen wirft und stirbt.
In Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art gibt es zwar keine Schwestern, die Arielle helfen können, aber das Ende bleibt ähnlich zu Andersens Märchenversion: Arielle stürzt sich schließlich in dunkles Wasser und ertrinkt, aber sie handelt nicht aus Verzweiflung, sondern aus einer tiefen Entschlossenheit heraus. Denn sie ist der festen Überzeugung, dass sie die Erste ihrer Art ist, die nicht dafür gemacht ist, in einer brennend heißen Stadt zu leben, sondern eigentlich für ein Leben unter der Wasseroberfläche gemacht zu sein scheint. Demnach ist es ihre Aufgabe, »Evolution zu üben«, wie es ebenfalls in einer Kapitelüberschrift heißt. So ist auch das Schlusskapitel, in dem alle Katastrophen ihren Höhepunkt erreichen, mit »Der erste Atemzug« betitelt.
Der österreichische Schriftsteller Matthias Gruber verwendet das Meerjungfrauenmotiv in seinem Roman zu offensichtlich, weshalb es schnell an Bedeutung verliert und aufgesetzt wirkt. Beispielsweise besitzt Arielle eine Meerjungenfrauen-Wasserflasche, malt Arielle-Bilder aus und bekommt von Aljosa eine rothaarige Perücke geschenkt. Dabei hätte der Name der Protagonistin bereits als Hinweis ausgereicht. Der Vergleich mit der Geschichte der kleinen Meerjungfrau bzw. der Disney-Arielle ist zwar Ausdruck von Arielles Wunsch nach einem anderen Leben, aber gleichzeitig wird gezeigt, dass es nicht bloß um einen schönen, romantisch motivierten Wunsch geht. Statt einer bloß verdrehten Nacherzählung der kleinen Meerjungfrau hat dieser Roman eine ganz andere Tiefe, denn im Vergleich zu der Meerjungfrau, ist die Protagonistin Arielle aufgrund ihres Gendefektes dazu gezwungen, anders zu sein, anders zu leben. Eine Anpassung, sowohl an das Klima als auch an die gesellschaftlichen Maßstäbe, ist für sie nicht möglich. So ist das Ende wenig überraschend, da von Anfang an die Ausweglosigkeit der Situation deutlich ist und keine andere Alternative angeboten wird.
Nichtsdestoweniger stellt Gruber insbesondere die Gefahren der sozialen Medien auf eine gesellschaftskritische und überzeugende Weise dar. Diese Risiken werden bereits an dem Namen der erdachten Plattform FireFly deutlich, der übersetzt »Glühwürmchen« bedeutet und auf den kurzlebigen Erfolg solcher Profile hinweist. Demnach behandelt der Roman konkrete Probleme, die in unserer heutigen Zeit, in der Schönheitsideale und soziale Medien einen immensen, teils schädlichen Einfluss auf Jugendliche nehmen, besonders ernstzunehmen sind.