Wann ist Liebe zu viel? Die schönste Version von Ruth-Maria Thomas ist eine Beobachtung: Die Beobachtung einer spezifischen Beziehung, die Beobachtung von heteronormativen Beziehungen überhaupt und vor allem eine Beobachtung über das, was zwischen uns steht.
Hinweis: Der folgende Text beinhaltet die Beschreibung von (sexualisierter) Gewalt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du sie in Göttingen hier: Frauennotruf
Von Sophie Charlotte Wehner
Bild: Via Morguefile, CC0
Der Roman beginnt mit dem Ende, beginnt mit der Eskalation. Dabei scheinen Jella und Yannick doch eigentlich so perfekt zu sein, so zueinander zu gehören, so aneinander zu hängen, eigentlich ist doch »alles todesschön«. Es beginnt mit dem Albtraum, mit der Gewalt, mit beengten behördlichen Räumen der Polizei. Es beginnt mit Yannicks Händen um Jellas Hals. Was dann einsetzt, ist der Versuch einer Ordnung, einer Rekonstruktion. A nach B nach C, einen Fuß vor den anderen setzen. Jella flüchtet in Todesangst aus der gemeinsamen Wohnung, geht zur Polizei, zieht zurück zu ihrem Vater. Sie fertigt To-do-Listen an, zählt die Tage, versucht einen Alltag zu erschaffen nach einer Tat, nach der es eigentlich keinen Alltag mehr gibt.
Aufwachsen am »Ende der Welt«
Aufgewachsen in einer kleinen Provinzstadt in der Lausitz, interessiert Jella und ihre beste Freundin Shelly nichts so sehr wie Kleidung, Jungs und Make-up. Der Druck, gemocht zu werden, begehrt zu werden, der Druck gut auszusehen begleitet ihre ganze Kindheit und Jugend. Ziele: Rauchen, trinken, in zu enge Lederröcke passen und endlich einen Penis in der Hand haben. Der Ekel dabei wird abgeschüttelt, das gehört schließlich dazu. Als Jella ihren ersten Freund im Kino in der letzten Reihe oral befriedigen soll, überschlagen sich die Gedanken in ihrem Kopf:
Diese bedingungslose Innensicht ist die größte Stärke des Textes. Der Protagonistin folgt man wie einem Schatten, ihre Atemlosigkeit wird zur eigenen Atemlosigkeit. Die Erfahrungen mit den ›Typen‹, die Drogen, der Alkohol, das Feiern – alles erscheint notwendig, alles erscheint folgerichtig. Die Kiesgruben des Tagebaus sind zu oft aber nur Kulisse. Was das eigentlich bedeutet, »am Ende der Welt« in der Nachwendezeit aufzuwachsen, wird zwar immer wieder kurz angeschnitten, aber leider nicht zu Ende erzählt. Das ist schade, denn Betrachtungen des soziokulturellen Milieus hätten dem Roman noch mehr Substanz gegeben.
Gerade die Fragen nach einer Verbindung zwischen der Kindheit in der provinziellen Lausitz und den späteren patriarchalen Gewalterfahrungen bleiben unbeantwortet. Denn wie hängen Hemmungslosigkeit und Gewalt in Beziehungen und das anerzogene Bedürfnis als Frau immer – und als allererstes – Partnerin zu sein, eigentlich mit einer Kindheit und Jugend in der Nachwendezeit zusammen? Und warum bricht die Mutter der Protagonistin irgendwann aus ihrem Umfeld aus und geht nach Berlin, um ihren Träumen am Theater nachzugehen? Einiges, was soziologisch – und auch literarisch – interessant gewesen wäre, wird von der Autorin leider liegen gelassen. Die spätere Beziehung zu Yannick, der Pimientos in der Pfanne röstet, Jazz hört und das ostdeutsche Kleinstadtleben nach seinem Kunststudium in München intellektuell verflucht, wirkt für die Protagonistin beinahe wie ein spät eingelöstes Versprechen. Denn diese Beziehung, die auf gegenseitiger Anziehung und Faszination beruht, scheint für Jella zunächst das absolute Gegenteil zu Blowjobs in der letzten Kinoreihe zu sein. Dass sie unter einer Panikstörung leidet, deswegen stundenlang Laufen geht und die Schäden einer nie eingestandenen Vergewaltigung auf der Seele trägt, kann sie bei Yannick fast vergessen. Fast.
»Es gab kaum noch Zeit, die nur mir blieb«
Thomas zeichnet ein exemplarisches Frauenleben Anfang des 21. Jahrhunderts nach. Viele erzählte Momente kommen gefährlich nahe, viele Momente lassen einen die eigenen Beziehungen, zurückliegende und aktuelle, reflektieren. Die Retroperspektive der Protagonistin erscheint stellenweise zu psychologisierend, zu eindeutig-erklärend. Das macht sie jedoch nicht weniger aufschlussreich. Thomas erzählt die Liebe zwischen Jella und Yannick als Naturgewalt, die schließlich auch in ihrer Zerstörung nicht zu stoppen ist. Der teilweise sehr aufgedrehte Kitsch in Szenen des Kennenlernens und Zusammenlebens ›vor dem Sturm‹ wirken – nach dem Sturm – fast deplatziert. Um die beinah klebrige Süße der frühen Beziehung sollte es nicht gehen. Beschreibungen, wie Jella in der gemeinsamen Wohnung nach und nach von der ständigen Zweisamkeit und dem dauerhaften Druck, alles richtig zu machen und dabei gut auszusehen, erdrückt wird, sind viel wirkungsvoller. Sie erträgt es irgendwann nicht mehr, als Frau immer nur Partnerin sein zu müssen.
Thomas erzählt diese Abhängigkeit nicht aus, sie lässt sie in verschiedenen Momenten aufleuchten. Überhaupt verliert sich der Text nicht in Sprachreflexionen, der Ton ist nüchtern, immer gesteuert von Jellas Versuch, ihr »Leben auf die Reihe [zu] bekommen« (nur zweiter Punkt auf der To-do-Liste). Denn die Innensicht ermöglicht ein Sprechen ohne Täter, ein konstant weibliches Sprechen mit all seinen Widersprüchen und Uneindeutigkeiten. Dabei findet ihre Protagonistin über die fast protokollarischen Erinnerungen an Emotionen, Körperlichkeit und Erwachsenwerden zu einem Sprechen, das sich immer sicherer wird. Sie findet schließlich zu einem Sprechen, das sich selbst zurückerobert.
Am Anfang und am Ende steht dann aber doch die Todesangst, stehen die Hände um den Hals, steht die Luftnot, steht »du Hure, ich schwör’s dir, wenn du nicht endlich dein Maul hälst«. Am Ende steht die Erkenntnis, dass das Erlebte nicht vergeht. Die Gewalt, die angetan wurde, verpufft nicht. Am Ende steht auch die Erkenntnis, dass die Gewalt, die Frauen angetan wird, noch längst nicht vorüber ist. Die Struktur, in der die Gewalt gesellschaftlich eingebettet ist, verpufft nicht. Das sichtbar zu machen und in die literarische Öffentlichkeit zu bringen ist der große Verdienst des Textes. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis sei dem Titel jedenfalls sehr gegönnt.