Sogar die Tiere wollten rein

Am letzten Wochenende des Literaturherbstes wird es nochmal voll im Alten Rathaus: Toxische Pommes und Moderatorin Amelie May sprechen über das Buch Ein schönes Ausländerkind. Es wird politisch, lustig und ein Überraschungsgast kommt auf die Bühne.

Von Lisa Marie Müller

Bild: Privat

Toxische Pommes ist der Künstler:innen-Name von Irina (Nachname unbekannt), der Kabarettistin und Autorin, wegen der das Alte Rathaus an diesem Abend, den 26. Oktober, so brechend voll ist. Der iconic Name wird im Heft zum Literaturherbst einfach erklärt: »Sie liebt Pommes und war in einer toxischen Beziehung«. Bekannt ist sie seit Pandemiezeiten, in denen sie anfing, satirische Videos ins Internet zu stellen. Gesellschaftskritik in lustigen Kurzvideos – Humor funktioniere für sie (wie für enorm viele?) als Bewältigungsstrategie unangenehmer Zustände und Situationen. Neben den Videos ist Toxische Pommes auch als Kabarettistin unterwegs. Ihre Touren haben gute Namen wie Ketchup, Mayo & Ajvar. Das Kabarettprogramm für nächstes Jahr hat den Titel Wunschlos unglücklich. Moderatorin Amelie May und sie wirken bühnenerfahren und entspannt, wie sie im ausverkauften Rathaus, wo die Menschen sogar auf den Treppen sitzen, auf der Bühne Platz nehmen und sich miteinander unterhalten.

Im Mittelpunkt der Lesung steht der autofiktionale Roman Ein schönes Ausländerkind. Sie gibt zu, extra die witzigen Stellen mitgebracht zu haben. Eigentlich ist es jedoch ein trauriger Text. Zum Entstehungskontext des Buches und zur Annäherung an die darin verhandelten Themen werden auf Bühne viele Anführungszeichen in die Luft gestikuliert. Ausgangspunkt ist ein Job, den Toxische Pommes hatte. In diesem Job (leider bleibt unklar, welcher genau) gab es viel »kreativen Raum« (nicht viel zu tun). Sie schrieb mehrere »Bücher« (Word-Dokumente) während der Arbeitszeit. Ihr Ziel war es, »gescheiterte Integration«, das heißt: widersprüchliche Anforderungen nicht erfüllen zu können, zu beschreiben. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein »schlechter Ausländer« (normaler Mensch), ein Vater, der stark an den vor den Jugoslawienkriegen nach Österreich geflohenen Vater der Autorin angelehnt ist. Die Handlung ist in der österreichischen Stadt mit dem irritierenden Namen Wiener Neustadt angesiedelt. Doch ob nun Österreich oder Deutschland, so betont Toxische Pommes immer wieder, das sei mittlerweile im Hinblick auf Rechtsruck und den Umgang mit Geflüchteten eigentlich egal ­– es ist in beiden Ländern eine Katastrophe.

Beschissene Umstände

Der Roman ist aus der Perspektive eines Kindes geschrieben, dessen Vater keine Arbeitserlaubnis bekommt und daher gezwungen ist, Hausmann zu sein. Ob das als ein feministisches Element gelesen werden könne, fragt May. Die Autorin verneint: Er sei ein Vater, der beim Kind geblieben ist, mehr nicht. Die Umstände (fehlende Arbeitserlaubnis, fehlende Alternativen), die ihn dazu bringen, seien sogar alles andere als feministisch. Er verbringt viel Zeit mit seiner Tochter, nennt sie ›sin‹ (Sohn), im Balkan eine Anrede für alle Kinder. Sie haben eine intensive Beziehung, die nicht immer einfach ist und irgendwann driften die beiden auseinander. Für Toxische Pommes ist es selbstverständlich, die Dialoge in den Sprachen zu schreiben, in denen sie stattfinden. Dementsprechend gibt es im Buch sowie an diesem Leseabend einige serbische bzw. in der jeweiligen Sprache verfasste Szenen, die in Klammern bzw. im Gespräch übersetzt werden. Es ist der Autorin wichtig, dass die Originalsprachen in dem Buch zu lesen sind. Nachvollziehbar und dennoch nicht selbstverständlich, wie Moderatorin May zusammenfasst.

Die (fehlschlagenden) Assimilierungsversuche sind treffsicher und eindrücklich beschrieben und werden vielen bekannt vorkommen. In einer Szene geht es zum Beispiel um das Phänomen, dass der Vater zuhause und auf der Straße sehr unterschiedliche Persönlichkeitsseiten zeigt. Draußen schämt er sich seiner Aussprache des Deutschen, regelt viel über schüchternes Lächeln, traut sich kaum etwas zu sagen und hält den Blick auf den Boden gerichtet. Während er zuhause endlich wieder er selbst sein kann, selbstbewusst und mit einer Sprache, die ihm Sicherheit gibt. Intersektionalität, die Verschränkung verschiedener Unterdrückungsmechanismen, ist bei Toxische Pommes sowohl implizit als auch explizit Thema. Armut, Herkunft und Geschlecht führen zu spezifischen Handlungen, Erfahrungen und Gefühlen, die sich in den Passagen aus dem Buch widerspiegeln.

Die Stellen, die vorgelesen werden, sind gleichermaßen witzig und tiefgehend. Witzig sind die trockenen Kommentare, die in erwachsener Sprache eine kindliche Sicht auf die Welt wiedergeben. Die Erzählerin wollte immer eine Barbie, die war aber zu teuer, bis ihr Vater nach einem Kaufhausbrand nachhaltig verbrannte, draußen zu lagernde Barbies zu einem sehr günstigen Preis bekam: »Sie alle gehörten jetzt mir allein« und ein ernster Blick ins Publikum. Die Tiefe kommt durch die Ehrlichkeit zustande, mit der sie die Verbindungen zu ihrem eigenen Vater umschreibt: Sie habe reale Schuldgefühle ihrem Vater gegenüber, eine Scham für die Scham, die sie damals für ihn empfunden habe. Toxische Pommes spricht auch von dem Gefühl, die eigene Familie verraten zu haben, um sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Die Missstände, denen die Protagonistin und deren Vater ausgesetzt waren, sind keine Einzelerfahrungen in Österreich (oder Deutschland). Das Leiden sitzt tief und Toxische Pommes erzählt mit Ein schönes Ausländerkind beispielhaft davon, wo das Leiden herkommt.

Cycle breaken

Plötzlicher Auftritt eines Überraschungsgastes: Eine relativ große Wanze umschwirrt zuerst die Frauen auf der Bühne und landet, wie man aus einer der vorderen Reihen erkennen kann, direkt vor den beiden auf dem Tisch. Alle sind abgelenkt und jegliche Entspannung weicht einer nervösen Fixierung auf das erstaunlich schnell krabbelnde Tier. Neben der Insektenbeobachtung geht es noch kurz um Therapie. Toxische Pommes weist darauf hin, dass nur eine Minderheit Zugang zu Therapie habe. Therapie sei eine gute Sache, aber nicht die Lösung für die Probleme einer Generation. Es sei nicht genug, um irgendwelche cycles zu breaken. (Transgenerationale) Traumata seien zu weit verbreitet, als dass sie durch Behandlungen einiger, die die Ressourcen haben, sich um einen Therapieplatz zu kümmern, verschwinden werden. Die Wanze wird auf der Bühne (fälschlicherweise, wie eine kurze Recherche ergibt) als Käfer bezeichnet, auch der kleine Besuch habe noch einen Platz im gut gefüllten Gebäude gefunden. Das Tier bewegt sich jetzt am Glas der Autorin.

Neben dem Wanzenbreak wird noch ein weiterer Bruch vollzogen, um den es schade ist: Innerhalb des Gesprächs zwischen May und Toxische Pommes geht es um Humor und Amelie May erklärt, dass sie beim Lesen des Buches an einigen Stellen laut lachen musste, das aber gar nicht leicht auszuhalten war, weil ihr das Lachen manchmal im Hals stecken geblieben sei. Sie schäme sich bei manchen Passagen im Buch dafür, diese im ersten Moment lustig zu finden. Toxische Pommes (und auch das Publikum) findet das interessant, habe das zum ersten Mal gehört. Es wäre spannend, mehr dazu zu erfahren: Was für eine Scham ist das? Woher kommt sie? Aber an dieser Stelle wird der Exkurs abgebrochen, das Thema abmoderiert und leider direkt zur nächsten Lesepassage übergegangen.

Spannend und ausführlicher ist das Gespräch der beiden zur Einordnung von Romanen. »Migrant*innenliteratur«, erklärt Toxische Pommes, sei Quatsch. Ihr sei es wichtig, nicht dort eingeordnet zu werden. Das passiere vielen migrantischen Autor*innen, die autobiografische Elemente in ihr Schreiben einbauen. Die Kritik: Die einen Romane würden aufgrund von Texteigenschaften, die anderen aufgrund von Autor:inneneigenschaften beurteilt und in bestimmte Schubladen gesteckt. Dem ist hinzuzufügen: Ein Großteil der Literatur kommt ohne Einsortierung aus, nicht zufällig handelt es sich dabei zum größten Teil um Bücher von weißen Männern, die dadurch eine Norm vorgeben. Dabei könnte man doch auch diesen Büchern ein Label verpassen: »Männer-Ego-Bücher« werden sie an diesem Abend genannt. Nach Meinung der Autorin aber wäre es fairer, Einordnungen an den Inhalten festzumachen und gegebenenfalls diese auszuzeichnen. Das mache mehr Sinn und ihr Roman passe beispielsweise perfekt ins Gebiet der Coming-of-Age-Romane. Toxische Pommes habe »ur Lust« auf einen neuen Roman, einen der nichts mit Migration zu tun hat, sodass die Einordnung in (post-)migrantische Literatur nicht so leichtfalle. Auf ein weiteres Word-Dokument in materialisierter Form darf sich bald, wie angedeutet wird, also schon gefreut werden.

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