Joachim Linn führt beim Best of Poetry Slam am 18. Mai 2024 durch einen Abend voller berührender und zum Nachdenken anregender Auftritte der Crème de la Crème der deutschen Poetry Slam-Szene. Musikalisch sorgt der dreifache deutsche Beat-Box Champion Madox für Stimmung.
Von Lisa Hoffmeister
Bild: Aidin Halimi, Theresa Sperling, Paul Bokowski, Annika Blanke und Moderator Joachim Linn (v. l. n. r.) © Lisa Hoffmeister
Der Eintrittsstempel, eine Uhr ohne Zeiger, ist ein erster Hinweis darauf, wie schnell die Zeit beim Best of Poetry Slam am 18. Mai vergeht. In der Göttinger Sheddachhalle findet ein Ableger der Poetry Slams statt, die sonst regelmäßig im Jungen Theater abgehalten werden. Die Location ist modern, offen und einladend. Dieses Mal gibt es jedoch einige Änderungen am Konzept: Zunächst einmal hat der Veranstalter und Moderator Joachim Linn ein besonders hochkarätiges Line-Up engagiert, das dem Titel der Veranstaltung alle Ehre machte. Diesmal gibt es keine offene Liste, sondern nur engagierte Acts. Die Crème de la Crème der Slammer:innen besteht aus der deutschen und niedersächsischen Meisterin 2023 Theresa Spering, den bekannten Slammer:innen Paul Bokowski und Annika Blanke und dem Comedian und Slamer Aidin Halimi. Außerdem gibt es ein anderes Punktesystem als sonst: Normalerweise wird in Göttingen die Punktewertung über einen Lautstärkeapplaus festgelegt. Diesmal werden Punktekarten an zufällig ausgewählte freiwillige Zuschauer:innen vergeben, die dann als Punkterichter:innen fungieren.
Joachim Linn führt im lässigen Look und Käppi gewohnt charmant und witzig durch den Abend. Zuerst erklärt er dem Publikum kurz, wie ein Poetryslam funktioniert. In Göttingen gibt es drei Regeln für die Lesenden: 1. Der Text muss selbstgeschrieben sein. 2. Das Zeitlimit fürs Vortragen beträgt zehn Minuten. 3. Alle treten unkostümiert auf. Auch für das Publikum gibt es eine Regel: Respect the poet. Dann wählt Linn die Punktrichter:innen aus dem Publikum aus und lässt jede:n die Frage »Warum bist du qualifiziert dazu ein Punktrichter zu sein?« beantworten. Der Lehrer in Linn kommt durch, wenn er die Zuschauer:innen zum Klatschen und Punktevergeben animiert. Der Abend ist in zwei Teile aufgeteilt, in welchem alle Poetry Slammer:innen jeweils einmal auftreten. Der erste Auftritt des Abends jedoch gehört keinem Poeten, sondern dem dreimaligen deutschen Beat-Box-Champion Conrad »Madox«, welcher dem Publikum, nachdem er ihm mit dem Hintern zugewackelt hat, mit seiner Musik richtig einheizt. Sein Mix aus Beat-Box und Gesang ist elektrisch und tanzbar.
Linguistische Oberklasse
Als erster Slammer tritt Aidin Halimi auf mit einem Gedicht in kompletter Alliteration: »Berlin ballert brutal«. Er versucht die Essenz von Berlin einzufangen in ungeschönter Ehrlichkeit, mit Phrasen wie »Berlin befeuert und beerdigt Begierden« und »Bushido und Bertold Brecht«. Dann trägt er seinen Text »Ich brauche nicht Artikel« vor, in dem er von den Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache erzählt: »Ich glaube Deutsche haben Artikel erfunden, um alles unnötig kompliziert zu machen«. Beide sind linguistische Oberklasse.
Danach tritt Theaterautorin und Oberstudienrätin Theresa Sperling mit sehr gesellschaftskritischen Slamtexten auf. Sie präsentiert zunächst ihren Publikumshit »Was ich, glaube ich, meinen Töchtern nie selber sagen würde«, in dem sie ihr Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen Bewunderung für die Lebenseinstellungen, Wertvorstellungen und Texter anderer junger Poetryslammer:innen und ihrer eigenen Erziehung in den Siebzigern und Achtzigern beschreibt. Trotz der Diskrepanz vermittelt Sperling, wie wichtig es ist, in seinem Leben selbst die Entscheidungen treffen zu können. Sie setzt gezielt Gesten ein, um ihre Worte zu unterstreichen. Ihr zweiter Text ist das Gute-Nacht-Märchen »Glut« in dem Sie den politischen Rechtsruck in Deutschland in Märchenform verpackt. Das Märchen führt nicht zu einer guten Nacht, sondern zu Albträumen in Form einer »Alternative für Zwerge«.
Als drittes liest Autor Paul Bokowski seinen Text über Magdeburg-Berlin »Biederitz sehen und Sterben« vor. Es ist ein zehn Minuten langes Deutsche Bahn-Desaster. Gut formuliert, stellenweise witzig, aber irgendwie doch nicht so mitreißend. Vielleicht hat jede:r schon zu oft seine:ihre ganz eigenen Deutsche Bahn-Dramen erlebt oder der mit 70 vergebenen Punkten an diesem Abend stärkste Auftritt von Theresa Sperling zuvor hat die Messlatte zu hoch gelegt.
Vor der Pause liest als letzte Annika Blanke. Sie wirkt unscheinbar, bis sie den Mund aufmacht, dann spricht sie erstaunlich kraftvoll. Ihre Vorstellung: »Ich mach was mit Worten« begeistert das Publikum sofort, auch wenn sie in Göttingen bereits bekannt ist. Danach sorgt sie mit dem Text »Drei Buchstaben oder wir haben das Feuer nicht erfunden« für Lacher und bringt zum Nachdenken über Schulunterricht, indem sie von ihrem Beruf als Lehrer:in, genauer gesagt von einer Vertretungsstunde in einer Klasse 5a zum Thema Sexualkunde, erzählt. Offenbar führt das Googeln nach »Sex« mit Jugendschutzfilter zu unbefriedigenden Ergebnissen und das Informationsportal des Landesministerium ›Juuuport‹ wird von den Schüler:innen häufig mit ›YouPorn‹ verwechselt.
»Stark wie ein Baum, zerbrechlich wie eine Blume«
Nach der Pause tritt BeatBox Champion Madox erneut auf und holt Musiker Tscharällo aka Moderator Joachim Linn für eine Improvisation auf die Bühne, bei der Rap und Beats verschmelzen. Tscharällo fordert das Publikum rappend auf, Dinge hochzuhalten, die er dann passend einbaut.
Dann sind noch einmal die Slammer:innen an der Reihe, diesmal beginnt Annika Blanke mit einer altbekannten Boardbistro-Anekdote und ihrem Text »Was bleibt ist Liebe«, der einen Mitmachteil für das Publikum enthält. Danach hat Paul Bokowski die Lacher auf seiner Seite: Sehr witzig erzählt er in »Blut ist dicker als Datenschutz«, wie er seine Mutter durch eine Fortbildung zur Datenschutz-Grundverordnung DSGVO begleitet, und erläutert, wie man nicht die Nerven verliert – oder vielleicht doch – bei den Schwierigkeiten, den eigenen Eltern das Internet zu erklären.
Theresa Sperling verpackt anschließend ihre Erfahrungen als Schülerin und Lehrerin in Texte über Mobbing und das Selbstbild. Ihr Text »Wolf« erzählt von einer Mobbingsituation und wie Mobbing funktioniert: »Menschen grenzen nur aus, wenn alle das tolerieren«. Als letztes liest Aidin Halimi seinen Text »Der Bindestrich«. Halimi ist »stark wie ein Baum, zerbrechlich wie eine Blume« und beschreibt die Zerrissen- und Verbundenheit, die jemand mit unterschiedlichen nationalen und kulturellen Wurzeln (in seinem Fall deutsch-iranisch) verspüren kann.
Das Selbstbild junger Frauen
Die Gewinnerin des Abends ist Theresa Sperling. Mit ihrem Siegervortrag »Sezierung« setzt sie dem Abend die Kirsche auf die Sahnetorte. Sie erzählt vom schwierigen Selbstbild junger Frauen und wie sie in einer Theater-AG nur mit Mädchen Nur Ophelia (kein Hamlet) aufgeführt habe. Dabei hätten alle Ophelia spielen wollen, doch erst ihr Selbstbewusstsein finden müssen. Eine große Herausforderung, nicht nur für Teenager. Glücklicherweise überwinden die Mädchen der Theater-AG im Text gemeinsam ihre Selbstzweifel und finden Selbstbewusstsein. Doch im Zuschauerraum weiß jeder, dass die Realität nicht immer so positiv endet.
Joachim Linn verabschiedet das Publikum mit der Erinnerung an den Poetry Slam am 30. Juni 2024 im Jungen Theater und dem Hinweis, dass es bald wieder Schreibworkshops für Poetry Slam Texte im JT geben wird. Der Abend begeistert und gibt viel zum Nachdenken über die Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft wie Mobbing und Integration mit. Die linguistisch ausgezeichneten Texte haben durch ihre starke Wortwahl fasziniert. An einigen Stellen sind diese zwar ein bisschen derbe, aber bringen die Botschaften auf den Punkt.
Am Büchertisch werden den Slammer*innen begeistert die letzten Exemplare abgekauft. Der Abend schürt schon jetzt Vorfreude auf den nächsten Poetry Slam.