Judith Pinnow erzählt in ihrem Ende 2023 erschienenen Roman Der Schacherzähler liebevoll vom Aufkeimen einer ungleichen Freundschaft zwischen Jung und Alt. Geschickt verwebt sie die Geschichten eines ganzen Dorfes zu einer Erzählung, die voller Geborgenheit, Harmonie und Melancholie ist. Ein Buch, das das vorhandene Potential zwar nicht gänzlich ausschöpft, den Lesenden aber trotzdem einige sorgenfreie Stunden bereitet.
Von Friederike Lange
Eine ungleiche Freundschaft
Malu zieht ihren 9-jährigen Sohn Janne alleine auf. Er hat Schwierigkeiten in der Schule, immer wieder bekommt die Mutter genervte Anrufe von der Lehrerin. Doch schließlich lernt Janne Oldman kennen, einen alten Herrn, der jeden Tag zum Schachspielen in den Park kommt – und fühlt sich zum ersten Mal verstanden. Es entsteht eine ungleiche Freundschaft, die vor allem von der Leidenschaft zum Schachspielen geprägt ist, aber auch Anlass für gemeinsame Abendessen oder das Durchstöbern der umfangreichen Plattensammlung von Oldman bietet. Oldman findet in Janne sein lang ersehntes Enkelkind und auch Malu nimmt den etwas mürrischen Mann freudig in ihre kleine Familie auf. Es entsteht eine behutsame Verbindung zwischen den dreien, die von gegenseitiger Unterstützung und wiedergefundener Lebensfreude geprägt ist, aber auch Mut gibt, um lang aufgeschobene Hürden zu überwinden.
Eine Gemeinschaft, die Mut macht
Nicht nur die Protagonisten machen Pinnows Erzählung zu einem absoluten Wohlfühlroman. Auch die Nebenfiguren, bestehend aus engen Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen, zeichnen sich durch ihre selbstverständliche Hilfsbereitschaft aus, die selten unerwidert bleibt. So suchen sie gemeinsam nach einer Lösung, als das Café ›Blue Hour‹, das Kernstück des Dorfes und Malus Arbeitsplatz, die Schließung droht – und finden sie ausgerechnet in einer Person, mit der niemand gerechnet hätte.
Die einzelnen Geschichten der Dorfbewohner sind dabei eng miteinander verwoben, ihre Probleme teilweise gar nicht so verschieden. Gemeinsam stehen sie füreinander ein, geben gute Ratschläge, spenden Trost und schaffen Mut, um Herausforderungen zu meistern. Der Schacherzähler schildert nicht nur die Freundschaft zwischen Oldman und Janne, eigentlich ist es die Geschichte eines ganzen Dorfes. Von Zusammenhalt und Loyalität, der Besiegelung von Schicksalen und dem Auseinandersetzen mit der Vergangenheit.
Malerischer Schreibstil mit wechselnden Perspektiven
Judith Pinnow erschafft in Der Schacherzähler durch ihren flüssigen Schreibstil und die unterhaltsame Erzählweise einen kurzweiligen Roman, der mit seiner heimeligen und herzerwärmenden Atmosphäre überzeugt. Besonders hervorstechend sind dabei die vielen Perspektivwechsel, die es den Lesenden ermöglichen, einen intimen Einblick in das Innenleben der Figuren zu erhalten. Dabei passt Pinnow ihren Schreibstil an die jeweilige Figur an. Während Malus Gedankenwelt oft von Sorgen um ihr Kind oder ihren Job durchzogen ist, versinkt Janne häufig in Tagträumen über lebendige Schachfiguren oder denkt über den nächsten Trick auf seinem Skateboard nach. Am bewegendsten ist wohl die Perspektive von Oldman. So kommuniziert er gedanklich immer wieder mit seiner mittlerweile verstorbenen Frau Lieschen und erinnert sich an lange vergangene Ereignisse aus ihrem gemeinsamen Eheleben.
Unterbrochen wird die Erzählung von handgezeichneten Bleistiftskizzen, die einzelne Szenen in Grauschattierungen aus dem Roman verbildlichen. Sei es ein Schachspiel zwischen Janne und Oldman oder eine Erinnerung von Oldman an Lieschen; die liebevollen Zeichnungen ermöglichen es den Lesenden, sich noch mehr in die Geschichte einzufinden.
Viel Gefühl, wenig Tiefe?
Die harmonischen Handlungsstränge und die ruhige Grundstimmung bilden leider auch die große Schwäche des Romans. Zwar gelingt es der Erzählung, bei den Lesenden ein wohliges Gefühl im Bauch zu erzeugen, jedoch versäumt sie es dabei, weiter in die Tiefe zu gehen. Es werden zwar mit Jannes Schwierigkeiten in der Schule und Malus Herausforderungen als alleinerziehende Mutter durchaus wichtige gesellschaftliche Themen angesprochen, doch es dauert nicht lange, bis sich dafür eine Lösung findet und jegliches Konfliktpotenzial verschwindet. Auch das Bereuen und die Angst davor, im Leben Risiken einzugehen, nehmen in der Lektüre einen großen Stellenwert ein. So bedauert Oldman, nie Kontakt zu seinem unehelichen Sohn aufgenommen zu haben. Doch auch hierfür findet sich eine Lösung, der Roman endet mehr als glücklich, lässt allerdings die Frage offen, ob es wirklich immer so leicht sein kann?
Dies hätte durch eine intensivere Veranschaulichung der Bewältigungsstrategien der einzelnen Figuren verhindert werden können, bei der hervorgehoben werden könnte, wie sie mit ihren Problemen und Ängsten umgehen und charakterlich an ihnen wachsen.
Für Lesende, die in ihren Lektüren hauptsächlich nach Harmonie und Sorgenfreiheit suchen, ist Der Schacherzähler durch diese Art der Problemabfertigung das ideale Buch. Ansonsten hätte dem Roman Mut zu mehr Dissonanz gutgetan. Zu mehr Kompromissen statt Auswegen, mit denen alle rundum glücklich sind. Und zu größerer Bereitschaft, Konflikte auch mal offen zu lassen, weil sich jahrelange Dispute leider nicht so schnell aus der Welt schaffen lassen. Der Roman hätte damit an Realismus gewinnen können und den Lesenden die Möglichkeit geboten, sich darin wiederzuerkennen. Und das, ohne zwingend an Harmonie und Wohlfühlfaktor zu verlieren.
Ein seichter Wohlfühlroman für zwischendurch
Auf etwa 300 Seiten schafft Pinnow es, ein Gefühl von Geborgenheit, Melancholie und Rührung zu erschaffen. Die Geschichte verläuft durch den kurzweiligen Schreibstil und die Perspektivwechsel seicht und harmonisch vor sich hin, die Freundschaft von Oldman und Janne ist bewegend beschrieben und zaubert einem oft ein Lächeln ins Gesicht. Auch die anderen Figuren werden liebevoll charakterisiert und gliedern sich hervorragend in die Geschichte ein. Der Schacherzähler ist ein Roman, der trotz des fehlenden Tiefgangs für angenehme Lesestunden sorgt und eine willkommene Auszeit aus dem Alltag bietet. Eine Geschichte, die sowohl von Freundschaft und Familie handelt als auch liebevoll von den Gewinnen und Verlusten im Leben erzählt und zeigt, dass jeder Tag eine neue Chance bietet. Denn wenn Malu ihren Sohn jeden Abend kurz vor dem Schlafengehen fragt: »Und was machen wir morgen?«, dann bleibt Jannes Antwort stets: »Morgen machen wir es besser!«