Auch ein Passagen-Werk

In Luna Alis Debütroman Da waren Tage ringt der junge Aras damit, die Dissonanz zwischen seinem unbekümmerten Leben in Deutschland und der zunehmenden Verschlimmerung der Zustände in seinem Herkunftsland Syrien auszuhalten. Leider scheitert die Autorin daran, Komplexität und Vermittlung zusammenzuführen. Stärken hat das Buch trotzdem.

Von Frederik Eicks

Bild: via Pixabay, CC0 (Ausschnitt)

Geschichten zu erzählen ist ganz schön anstrengend. Einerseits müssen wir alles Notwendige berücksichtigen, damit die einzelnen Ereignisse motiviert werden und sich aus dem jeweils vorangegangenen (oder mehreren davon) entwickeln können. Andererseits müssen wir aber auch einen ganzen Haufen Ereignisse, die irrelevant oder wenigstens nicht ganz so relevant sind, weglassen, damit wir irgendwann auch mal fertig werden. Erzählen ist also eine immense Leistung der Selektion und Komplexitätsreduktion – zumindest, wenn man an ›typische‹ Erzählungen wie Fontanes Effi Briest, Manns Buddenbrooks usw. denkt. Wirksam aufgebrochen wird dieses Erzählparadigma in der Moderne: Romane wie Rilkes Malte Laurids Brigge spiegeln in ihrer Hinwendung zum Fragmentarischen, das keine klaren Handlungsverläufe mehr erkennen lässt, eine rapide sich wandelnde Welt sowie eine Lebens- und Produktionsweise, die literarisch erfasst werden sollen. In der Postmoderne werden solche Ansätze dann auf die Spitze getrieben.

Der Roman ist also längst keine Textgattung mehr, bei der dem Lesepublikum eine nett vor sich hin plätschernde Geschichte präsentiert wird (was er natürlich auch weit vor Anbruch der Moderne schon nicht oder zumindest nicht ausschließlich war). Der Einfluss des Bruchs mit typischen Erzählweisen zieht sich bis in unsere Zeit. Dafür muss man nur einmal einen Blick auf die Bücher werfen, die heutzutage mit renommierten Preisen, zum Beispiel dem Deutschen Buchpreis, ausgezeichnet werden: Kim de l’Horizons Blutbuch, Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos und Saša Stanišićs Herkunft sind Bücher, die zwar laut Aussage der Buchpreis-Stiftung als »Romane des Jahres« gekürt wurden, sich aber mit unterschiedlichsten Mitteln heftig gegen eine so eindeutige und unreflektierte Genrezuschreibung sträuben. Weitere Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit für den Trend, dass das klassische Erzählen – wenn man nicht (nur) auf Verkaufszahlen, sondern auch auf das Prestige in der Kulturlandschaft schielt – ziemlich out ist, ließen sich in beliebiger Zahl ergänzen.

Kippen ins Querformat

In diese Reihe, die sich ursprünglich in einer Traditionsabkehr begründet und inzwischen selbstverständlich ihre eigene Traditionslinie bildet, ist auch Luna Alis Debütroman Da waren Tage zu stellen: Für etwas mehr als die erste Hälfte wird hier zwar episodenhaft, insgesamt aber ohne krasse Brüche erzählt. Als dann jedoch klar wird, dass der Protagonist Aras in seiner wackeligen und auch schmerzhaften Zwischenposition die Balance verliert und dissoziative wie halluzinative Zustände ausbildet, kippt das Buch – und zwar wortwörtlich: Das nächste Kapitel ist im Querformat gedruckt, es gibt nur einzelne, durcheinander angeordnete Textblöcke und -bausteine, die in keiner definitiven Reihenfolge zu lesen sind und auf mehreren Ebenen gleichzeitig ›erzählen‹, wenn man das so nennen will. Aber: Worum geht es eigentlich?

Da waren Tage beginnt im Jahr 2011 und Aras, der im ersten Semester Jura studiert, sitzt gerade an seiner ersten Hausarbeit. Aus Furcht vor politischer Verfolgung – denn der kommunistisch organisierte Vater war eines Tages nicht nach Hause zurückgekehrt – floh seine Mutter Nadia mit ihm und seiner Schwester Lamia bereits vor vielen Jahren von Syrien nach Deutschland. Nun geht es aber nicht um Aras’ oberflächlich recht erfolgreiches Jura-Studium inklusive Stipendium und Praktikum in der deutschen Botschaft in der jordanischen Hauptstadt Amman, sondern um winzige Ausschnitte aus Aras’ Leben: Vom ersten zum zweiten Kapitel springt man vom Jahr 2011 ins Jahr 2012. Dann ins Jahr 2013 usw. usf. bis ins Jahr 2019 (und dann 4020).

Zwischen Jura-Studium und syrischer Revolution

Jedes Kapitel ist nur eine Momentaufnahme von einem einzigen Tag in jedem dieser Jahre. Genau genommen immer vom selben Tag, wie sich später herauskristallisiert, nämlich vom 15. März (an dem auch der Roman selbst beinah erschienen ist, nämlich am 13. März): der Jahrestag der syrischen Revolution, die sich 2011 erhob und in den Folgejahren (vereinfacht gesagt) in einen verheerenden Bürgerkrieg zwischen dem diktatorischen Assad-Regime, den revolutionären oppositionellen Gruppen und dem Islamischen Staat mündete. Was Da waren Tage erzählt, ist, wie ein junger Mann, der zwar in Syrien aufgewachsen ist, diese Kindheit aber eigentlich hinter sich geglaubt hatte, von seiner Herkunft eingeholt wird: Welche Strategien von Aushandlung und Umgang hinsichtlich der eigenen Lebenswirklichkeit und politischer Handlungsoptionen entwickelt jemand, der das Gefühl hat, »nicht mehr ganz Teil der Welt zu sein, weder Teil der Realität, in der sie wirklich lebten, noch der des Krieges«?

Dass es auf so eine Frage keine einfache Antwort geben kann, darauf weist der Roman schon mit seiner Struktur hin. Das heißt aber nicht, dass sich keine Ankerpunkte aufspüren lassen, beispielsweise in Form einer Vielzahl von Verweisen auf Intellektuelle und Theoretiker:innen. Es ist ein Kanon (meist) linker Theorie, der dem Buch zugrunde liegt: Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Karl Marx, Friedrich Engels, Hannah Arendt… diese Verweise sind mal eher versteckt, manch ein Name fällt aber auch direkt im Text. Hier schlägt sich deutlich das ausgiebige Studium Alis nieder, die Kulturwissenschaften, ästhetische Praxis, literarisches Schreiben und Anthropologie studiert hat.

Die Nullbewegung des Romans

Was sich aus dem groben Nachspüren offensichtlicher Leitlinien dieses Romans ablesen lässt, ist, dass es sich um ein ausgesprochen anspruchsvolles Schreibprojekt handelt – und diesem Anspruch kann der vorliegende Text leider nur stellenweise gerecht werden. Denn klar erkennbar geht es Ali nicht nur darum, die Komplexität der Sachverhalte zum leitenden Formprinzip des Romans zu erheben statt sie erzählend zu reduzieren, sondern der Autorin ist auch daran gelegen, Wissen und Botschaften zu vermitteln: Historische Hintergründe, politische Einordnungen und kämpferische Losungen, welche die Lesenden an die Hand nehmen und freundlich aber bestimmt erklären, sind genauso Teil des Romans wie Detailbeschreibungen und Figurencharakterisierungen, von denen man sich fragt, warum sie überhaupt Teil eines Romans sind, der doch gar kein Roman im traditionellen Sinne sein möchte. Es sind diese zwei gegenläufigen Tendenzen gleich zweier Wellen, die aus dem Buch heraus in uns hineinrauschen und – weil die eine immer dann ihren Zenit erreicht, wenn sich die andere im Nadir befindet – einander annullieren, in einer Nullbewegung zerkräuseln.

Das ist außerordentlich bedauerlich, weil Da waren Tage grundsätzlich kein schlechtes Buch ist: Es greift einen wichtigen Stoff der jüngsten Vergangenheit, die mit den anhaltenden Angriffen auf Rojava gar nicht so vergangen ist, auf, und behandelt diesen mittels vieler kreativer Ideen. Klar ist auch, dass Ali keine schlechte Autorin ist. Nur liest sich das Buch, als hätte sie sich bis zum Schluss nicht so recht entscheiden können, wohin es nun gehen soll. Dementsprechend ist der Roman dann am stärksten, wenn er nur eine der beiden Linien – der Komplexität oder der Vermittlung – konsequent verfolgt.

Geordnetes Chaos: Unvollständige Listen

Für die erste Linie – der Komplexität – steht zum Beispiel das schon erwähnte Kapitel im Querformat, das im Jahr 2017 spielt: Es stellt sich zwar mit der Lektüre allmählich die eine oder andere Erkenntnis ein, welche Erzählschnipsel hier wohin gehören, aber Herzstück des Kapitels sind die sogenannten »unvollständigen Listen«, die überhaupt gar nix erklären, sondern bloß aufzählen, hier Liste Nummer neun: »Yassin al-Haj Saleh, Omar Alshogre, Anwar al-Bunni, Mazen Darwish, Yara Badr, Samar Yazbek, Rosa Yasin Hassan«. Wer herausfinden möchte, was diese Listen überhaupt auflisten, muss sich eben auf die Suche begeben – und sich Wissen aneignen: über syrische Schriftstellerinnen und Aktivist:innen (wie oben), aber auch Militärfunktionäre und Kriegsverbrecher, Orte der Folter, Orte von Massakern oder abgelehnte Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Was Ali an dieser Stelle in ihren Roman einwebt, ohne irgendwem irgendwas aufzudrängen, ist ein echter Wissensschatz – den man allerdings selbst heben muss. Auf diese Weise wird die chaotische Komplexität des unüberblickbaren Sachverhalts einerseits zur Schau gestellt, andererseits aber wenigstens soweit geordnet, dass sich Pfade durch das Gewirr schlagen lassen.

In den Momenten stärkster Komplexität leistet Da waren Tage das, was Monika Rinck in ihren Göttinger Poetikvorlesungen Wirksame Fiktionen (Wallstein 2019) als ihre Lektüreerfahrung gelungener Gedichte beschreibt: »In den Gedichten von Wendy Trevino waren es gerade die Lücken, die mich unterrichteten. Die mehrdeutigen Verweise, die Namen, die ich nicht kannte, jüngste Geschichte und fremde Geschichten, die mir nichts sagten, Stichworte, die mir dunkel blieben, aber dennoch deutlich als Stichworte zu erkennen waren, Namen von Politikern, Theoretikern, Popstars, historischen Ereignissen, Gesetzen und Gerichtsprozessen – und ich schlug alles nach oder gab es ein ins Netz. Die Welt vergrößerte sich immens. Nach einem ruhigen Nachmittag auf einem unbequemen Sofa hatte ich mir ein neues Netz geknüpft.« Denselben Effekt kann auch Ali an bestimmten Stellen des Romans erzielen. Zum Beispiel entstehen immer wieder Irritationsmomente durch arabische Wörter, die mit lateinischen Buchstaben und arabischen Ziffern geschrieben sind: Wenn im Roman »shabi7a« steht, dann ist das arabische Wort für die paramilitärische Schabiha – شبّيحة – gemeint. Was es mit dieser Transkription auf sich hat, kann nur wissen, wer außerhalb des Romantextes danach sucht.

Erzählende Vereindeutigung: Ausführliche Erklärungen

Was dann aber völlig überrascht, sind die beiden Kapitel, die auf das Jahr 2017 folgen und die zweite Linie – der Vermittlung – verfolgen: Das erste davon ist eine Rede zur deutschen Asylpolitik, die Aras im Jahr 2018 hält, und ist dementsprechend simpel strukturiert. Hierin könnte man vielleicht noch den Versuch einer autobiographisch-erzählenden Vereindeutigung seitens des Protagonisten erkennen – die aber natürlich nur vorgetäuscht werden kann, wie der Roman selbst weiter vorne reflektiert: »Auch wenn das Leben in keine lineare Erzählung zu fügen war, so dürfte ihre Geschichte keine Ungereimtheiten haben, so wurde es ihr von anderen Asylbewerbern erzählt.«

Luna Ali
Da waren Tage

S. Fischer:
Frankfurt a. M. 2024
304 Seiten, 24,00 €

Es ist aber gerade diese erzählende Vereindeutigung, die dann im Kapitel darauf, im Jahr 2019 durch den Roman – nicht mehr bloß durch die Figur des Protagonisten – vollzogen wird. Aras wartet nur noch auf die Abschlussfeier zu seinem absolvierten Studium und heuert für zwei Wochen auf einem Seenotrettungsschiff im Mittelmeer an. Ausführlich lernt man die Crew kennen, den Matrosenjargon, das Leben an Bord. Für zwei dieser Figuren erhält man sogar Innenperspektiven, obwohl bis auf ein oder zwei seltene Ausnahmen der Roman die ganze Zeit aus Aras’ Perspektive erzählt. Das ist ein ausgesprochen gut recherchiertes, klassisch erzähltes Kapitel und an einem ganzen Buch dieses Stils wäre nichts auszusetzen – aber aus dem Romanzusammenhang fällt es als vorletztes Kapitel völlig heraus: Wozu erfahre ich als Leser:in, in welchem hierarchischen Verhältnis die verschiedenen Rollen wie Engineer, Head of Mission und RHIB-Fahrer zueinanderstehen? Warum, dass Crewmitglied Raoul ein Wal wäre, müsste er sich ein Tier aussuchen?

Soziologische Lesart

Dieses Problem, dass Romanpassagen im Kontext des gesamten Textes eher unmotiviert wirken, tritt häufiger auf. Man könnte zum Beispiel auch fragen, warum das jetzt wichtig ist zu erfahren, dass Aras’ Freundin Rhea es gern etwas härter mag beim Sex. Denn Da waren Tage interessiert sich im Grunde überhaupt nicht für die Figuren. Diese Figuren werden ohnehin nicht so ausstaffiert, dass man sie für echte Personen hielte. Stattdessen sollten sie – so scheint es der Roman nahezulegen – ganz im Sinne einer Bourdieu’schen soziologischen Lesart als Vertreter und Ausdruck gesellschaftlicher Phänomene begriffen werden. Nur so lässt sich verstehen, dass Aras in seiner Rede auf den systemischen Charakter der Krisen, die ihn und seine Mitmenschen plagen, hinweist, und dass er dann am Ende vor der Wahl steht, in ein neues Universum einzutreten und zu versuchen, »alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein einsames, verlassenes, geknechtetes Wesen ist, zu überwinden«. Dem stehen Passagen entgegen, die durch ihren konkreten erzähltechnischen Zugriff in eine ganz andere Richtung weisen.

Vielleicht ist es gerade diese Inkonsequenz, die Verfolgung gegenläufiger Linien, die dem Roman einen besonders disparaten, fragmentarischen Charakter verleihen soll. Oder es geht um den Versuch, zu einer Synthese der beiden zu gelangen – angesichts des theoretischen Fundaments liegt der Begriff der Dialektik nicht fern. Dahinter scheint die Überzeugung zu stehen, dass man den Menschen Komplexität zutrauen muss; dass man sie damit aber auch nicht allein lassen darf. Die Idee selbst leuchtet ein, zumal vor dem Hintergrund eines riesigen Vermittlungsproblems in Zeiten von informationeller Übersättigung und disziplinärer Höchstspezialisierung: Wie erklärt man Menschen Neutronensterne, Celans Gedichte, Pilzgeflechte, Coronaviren, systemische Ausbeutung? Die Umsetzung dieser Idee in Da waren Tage jedoch überzeugt nicht. In der vorliegenden Gestalt, die in starken Momenten zur eigenen Weiterbildung herausfordert und sich letztlich sogar an die Frage heranwagt, wie wir eigentlich leben wollen, glänzt der Roman bloß passagenweise – auch ein Passagen-Werk, irgendwie.

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