»Und dann wird im Idealfall irgendetwas Schönes passieren«

Am 19. und 20. April findet im Göttinger Literaturhaus der lyrische »Ausnahmezustand« statt: Der zweite Jahrgang des Förderprogramms SchreibZeit der Stiftung Niedersachsen – Katia Sophia Ditzler, Giorgio Ferretti, Ozan Zakariya Keskinkılıç und Inana Othman – präsentiert im Rahmen des Festivals »an|grenzen« seine Arbeit als »Lyrikspektakel«. Auf dem Programm stehen Videoinstallationen, Virtual Reality-Performances, musikalische Inszenierungen und gebärdete Gedichte.
Im Interview sprechen die Festivalverantwortlichen Amelie May und Gesa Husemann vom Literarischen Zentrum und Gesa Schönermark von der Stiftung Niedersachsen über die Veranstaltung, Lyrik im digitalen Zeitalter und den festivaleigenen Poesieautomaten.

Von Svenja Brand

Bild: Poesieautomat im Café Liesels, ausgeliehen vom Leipziger Literaturhaus © Svenja Brand

Sie stecken gerade wahrscheinlich mitten in den letzten Vorbereitungen für das Festival. Was steht jetzt noch an?

Gesa Schönermark: Das, was wir jetzt machen, ist Finetuning. Wir gehen durch die Tage, um nichts zu vergessen: Abläufe, Essen – wir möchten gerne, dass es unseren Gästen gut geht – Reihenfolge, Technik. Wir haben sehr viele verschiedene Formate, die technische Begleitung brauchen und nur dann auch wirksam werden können.

Gesa Husemann: Dieses Sich-einmal-Hinsetzen-und-alles-von-Anfang-bis-Ende-Durchdenken; den Raum einmal im Kopf bis in jede Ecke abgehen: das ist bei jeder Veranstaltungsplanung essenziell, sonst funktioniert das nicht.

»an|grenzen: Ausnahmezustand! Ein Lyrikspektakel« – Was für ein Festival steckt hinter diesem sehr emphatischen Titel?

Gesa Schönermark: Im letzten Jahr gab es um die Festivalbenennung ein großes Ringen: Soll dieses Festival auch ›SchreibZeit‹ heißen? Wir haben ewig gesucht und irgendwann ist mir tatsächlich in einem der Horen-Hefte ein Artikel mit diesem Titel untergekommen. Den Begriff durften wir dann nutzen. Mit dem Strich dazwischen: »an|grenzen« fanden wir es sehr stimmig dafür, dass hier nicht nur Jahrgänge aneinandergrenzen – beim ersten Festival haben wir den zweiten Jahrgang vorgestellt, jetzt präsentiert der zweite Jahrgang seine Arbeit und der dritte wird vorgestellt – sondern es inhaltlich auch um eine Überschreitung von Grenzen geht, weil der erste Jahrgang sich mit interkultureller Prosa beschäftigte. Und der Titel passt auch für lyrische Grenzüberschreitungen.

Gesa Husemann: Wir müssen aber natürlich immer auch das Publikum mitdenken. »an|grenzen« – das ist komplex. Für das Publikum ist nicht sofort erschließbar: Was bedeutet das? Und deshalb war klar: Wir müssen sagen, es ist ein Lyrikfest. Da kam Amelie mit dem Begriff »Lyrikspektakel«. Inana Othman und Martina Hefter hatten da schon einen Slot für das Festival mit »Ausnahmezustand« benannt. Und da ist uns klar geworden: Okay, alles, was hier auf die Bühne kommt, ist nicht nur ausnahmslos gut (lacht), sondern auch wirklich eine Art von Ausnahmezustand. Lyrik für sich ist manchmal ein Ausnahmezustand. Und das haben wir dann alles zusammengesetzt.

Mit dem Stipendienjahrgang 2023 wurde »Lyrik im digitalen Zeitalter« gefördert. Was ist das Besondere an Lyrik im digitalen Zeitalter?

Gesa Schönermark: Es gibt von Gerhard Lauer ein schönes Buch: Lesen im digitalen Zeitalter. In dem behauptet er, dass noch nie so viele Menschen lesen und schreiben konnten, wie heute, und noch nie musste man Sprache so verdichten, um auf kleinstem Raum all das sagen zu können, was man möchte. Das liegt daran, dass wir digital viel mehr unterwegs sind. Wir glauben, dass Lyrik genau deswegen im Moment deutlich mehr wahrgenommen wird. Aber es geht auch um das Spiel mit Digitalität: Wir haben zwei Künstlerinnen dabei – Katia Sophia Ditzler und Liudmila Siewerski – die dezidiert mit digitalen Räumen spielen. Und bei Giorgio Ferretti und Quang Nguyen werden mithilfe eines Programms Grafiken in Reaktion auf Sprache abgebildet.

Amelie May: Durch die Möglichkeiten, die vor allem in den letzten zehn Jahren dazugekommen sind, ist der elitäre, manchmal vielleicht etwas angsteinflößende Charakter von Lyrik weniger geworden. Formen wie instapoetry, die allein durch die Reichweite neue Zielgruppen erschließen und vermeintlich starre Formen auflösen, zeigen, dass Lyrik total vielfältig ist und nicht nur in staubigen Büchern nachgelesen werden kann. Bei instapoetry, wo nicht nur ein Bild im Kopf entsteht durch den Text, sondern ein Bild mit Text kombiniert wird, wird die Formenvielfalt durch Digitalität deutlich. Und diese Formenvielfalt macht Lyrik noch freier, als sie sowieso schon ist. Durch die entstehende Intermedialität, wie wir sie beim Festival erleben werden, können ganz verschiedene Sinne angesprochen werden. Und nach meinem Gefühl ist durch Digitalität auch die Themenvielfalt größer geworden, wird mehr mit Sprachen experimentiert, ist die Rezeption internationaler geworden. Das sind Faktoren, die die Barrierefreiheit von Lyrik begünstigen.

Förderprogramm SchreibZeit

Zwischen 2022 und 2025 fördert die Stiftung Niedersachsen im Stipendienprogramm SchreibZeit jährlich einen anderen literarischen Schwerpunkt. Im zweiten Förderjahr 2023 ging es um Lyrik im digitalen Zeitalter. Vorgeschlagen und ausgewählt werden je vier Stipendiat:innen von einem – je nach Genre wechselnden – Kuratorium und einer Jury; Bewerbungen sind nicht möglich. 2023 wurden Katia Sophia Ditzler, Giorgio Ferretti, Ozan Zakariya Keskinkılıç und Inana Othman gefördert. Die Stipendiat:innen erhalten viermonatige Stipendien in Höhe von 2.250 Euro pro Monat, die auf Wunsch mit einer Residenz in Niedersachsen verbunden sind, und werden von individuell ausgewählten Mentor:innen begleitet; im zweiten Förderjahr von Ulrike Draesner, Martina Hefter, Dagmara Kraus und Björn Kuhligk.

Sie betonen in den Ankündigungen und der Beschreibung des Förderprogramms Poetry Slam, Performances, popkulturelle Formen. Katia Sophia Ditzler schafft begehbare Gedichte in virtueller Realität. Sollten gerade solche Formen unser Bild von Lyrik viel mehr prägen?

Gesa Husemann: Das ist ja immer so eine Frage mit diesem »Sollte«. Wir haben uns vorher auch noch einmal über den Begriff verständigt: Was bedeutet Lyrik eigentlich für uns? Wir sehen besonders die Chancen der kurzen Form in der jetzigen Zeit. Wichtig ist, dass Lyrik für jeden etwas anderes sein kann. Es gibt eben nicht das eine Gedicht. Es gibt Vielseitigkeit, Vielförmigkeit, Vielformatigkeit von Lyrik – und das ist das Schöne. Lyrik im digitalen Zeitalter macht diesen Raum komplett auf und darin kann alles stattfinden, in jeder Form. Und die Stipendiat:innen changieren auch zwischen analog und digital, die wissen durchaus damit zu spielen.

Gesa Schönermark: Vielleicht ist Lyrik – oder live erlebte Lyrik – heute nicht mehr die Wasserglaslesung, sondern mehr eine Performance. Für mich ist Inana Othman ein gutes Beispiel, die 2023 beim Prosanova-Festival in Hildesheim in einem halbdunklen Raum nur in arabischer Originalsprache gelesen hat. Klang spielt eine große Rolle, es ist viel sinnlicher geworden. Durch die Tandempartner, die unsere Stipendiat:innen ausgewählt haben, ist uns deutlich geworden, wie oft sie ein Gegenüber suchen, das ihre Anliegen in Musik und Rhythmus ausdrückt. Das kann man bei einem Festival natürlich deutlich besser zeigen als in einer Anthologie. Und: durch Performances, auch im digitalen Raum, ist man einfach sehr, sehr viel dichter an den Dichterinnen und Dichtern dran.

Also geht es um das Erlebnis?

Gesa Schönermark: Das Gemeinschaftserlebnis in so einer Performance ist nochmal etwas anderes. Ich sehe oft Leute, die sich schöne Sätze aufschreiben, weil sie genau diesen Moment festhalten wollen. Jeder kennt das, wenn man etwas liest oder hört und denkt: Wow, das habe ich schon so oft gefühlt, aber noch nie so gut beschrieben. Das ist so ein Moment, den wünsche ich jedem, der Gedichte vorgetragen hört.

Gesa Husemann: »Ich bin verwurzelt in Erosion.«

Gesa Schönermark: »Ich bin verwurzelt in Erosion!«

Gesa Schönermark (Programmleiterin SchreibZeit bei der Stiftung Niedersachsen), Amelie May (Projektverantwortliche »an|grenzen« im Literarischen Zentrum) und Gesa Husemann (Co-Leitung Literarisches Zentrum), v. l. n. r. (© Svenja Brand)

Gesa Husemann: Das ist ein Zitat von Katia Sophia Ditzler, das bei mir so hängengeblieben ist. Wir feiern ganz klar ein Performancefest. Aber grundsätzlich ist die verwendete Sprache, Alltagssprache, heute vielleicht lyrischer, als man denkt. Man findet ganz viel, wenn man genauer hinguckt, und wenn man einmal angefangen hat, sich mit der kurzen Form auseinanderzusetzen, sprießt es aus allen Ecken. Das weist in Richtung des Barriereabbaus: Dass die Leute nicht so viel Angst haben sollen vor Lyrik. Und ob wir das jetzt Gedichte oder Lyrik oder Lyrikspektakel nennen – wichtig ist: Das ist was für alle! Nicht nur für den Elfenbeinturm.

Amelie May: Bei der kurzen Form geht es – mehr als bei vielen anderen Formen vielleicht – eben auch um Partizipation. Um Barriereabbau in jeglicher Hinsicht, um integrative Momente, um Teilhabe. Bei Instagram, wo die vier Stipendiat:innen sehr aktiv sind, sieht man, dass lyrische Formen immer mehr Platz einnehmen, dass diese Formen Möglichkeiten von Sprache durch Mehrsprachigkeit ausloten. Und das sind ganz wichtige Aspekte von Inklusion. Mehrsprachigkeit in der Lyrik wird vielleicht mehr als in allen anderen Formen als Mehrgewinn gesehen – damit erscheint Lyrik auch progressiver als andere Bereiche der literarischen Szene. Und im digitalen Format werden viel mehr Leute mitgenommen. Die vier Stipendiat:innen zeigen, was alles möglich ist und wie viele Menschen erreicht werden auch außerhalb des klassischen Literaturbetriebs.

Was zeichnet die Stipendiat:innen des zweiten Jahrgangs aus?

Gesa Schönermark: Das ist schwierig, weil es über jeden einzelnen extrem viel zu sagen gibt. Die Jury hat bei der Auswahl sehr auf interkulturelle Elemente geachtet. Teilweise konnte ich Gedichte von Ozan Zakariya Keskinkılıç gar nicht lesen, aber Safiye Can aus der Jury natürlich. Und die hat sofort gesagt: das ist unfassbar schön, was er auch mit der türkischen Sprache macht, wie er mit dem Deutschen und dem Türkischen spielt. Inana Othman liest eben oft auch nur auf Arabisch – mit einer Stimme, die eine ganz starke sinnliche Kraft hat. Ohne ein Wort ihrer Sprache zu kennen, weiß man, wovon sie spricht. Ganz viele digitale Versuche macht Katia Sophia Ditzler. Sie bringt ganz viel technisches Wissen mit und spielt damit, berührt damit auch eine ganz eigene Community. Bei Giorgio Ferretti wird Sprache auf andere Art zum Experimentierraum, auch weil er sehr anerkannte Theaterarbeit macht. Alle vier sind in so unterschiedlichen Feldern aktiv, dass wir ein Spektakel, ein Feuerwerk an Möglichkeiten sehen werden.

Bei einem Festival geht es um das Aufgehen in der Atmosphäre, darum, eine Rundum-Erfahrung mit viel Power und Engagement über einen längeren Zeitraum zu machen. Wie ist das bei an|grenzen – was erwartet die Festivalbesucher:innen?

Gesa Husemann: Genau das (lacht). – Ja, das ist die Idee. Es ist umsonst, es ist offen, es gibt verschiedene Slots, man kann kommen und gehen, es ist eine Symbiose im Sein. Alle sollen einbezogen werden, man kann einfach mal reinschauen. Das ist hier im Literaturhaus so schön, weil man mit der Tür direkt in den Veranstaltungsraum fällt. Wir haben das Festival auf zwei Tage komprimiert, das ist schon sportlich. Aber genau das ist für das Gefühl so wichtig: Es sind kurze Einheiten, ganz intensiv und konzentriert. Wir lassen immer Pausen, dass man auch danach besprechen kann: Was haben wir da gerade gesehen, was hat das mit uns gemacht? Das Schöne ist: Man kann sich reinsetzen und muss sich eigentlich nur öffnen und auf Empfang stellen. Und dann wird im Idealfall irgendetwas Schönes passieren.

Amelie May: Wir wollen ja auch den elitären Charakter von Literatur und von Lyrik im Speziellen wegnehmen – durch diese offene Gestaltung; dadurch, dass es keinen Eintritt gibt, sollen wirklich alle willkommen sein. Und weil es als Come and Go konzipiert ist, gibt es die Möglichkeit, dass außerhalb der Slots ganz verschiedene Menschen ins Gespräch kommen können. Seien es die Autor:innen untereinander, Verleger – Jo Lendle als Schirmherr des Förderprogramms wird da sein – literaturinteressierte Menschen, Menschen, die selbst schreiben, andere, die eher konsumieren möchten, solche, die sich durch den VR-Charakter angesprochen fühlen. Und das ist uns total wichtig, dass dafür Raum ist. Dass sich hier alle einfach wohlfühlen, alle miteinander sprechen können.

Schon vor dem Festival sollen die Gedichte der Beteiligten in Göttingen das Festival einläuten. Auf der Website des Literarischen Zentrums wird dafür ein Poesieautomat angekündigt: Was hat es denn damit auf sich?

Amelie May: Der Poesieautomat steht seit mittlerweile einem Monat im Café Liesels (am Göttinger Alten Rathaus, Anm. d. Red.). Das soll ein kleiner Vorgeschmack sein: Wir haben die Stipendiat:innen gebeten, dass sie uns Ausschnitte, teilweise auch ganze kurze Gedichte, zuschicken. Und wir haben einen kleinen Kaugummiautomaten bekommen, –

Gesa Husemann: – den hat uns das Literaturhaus Leipzig ausgeliehen –,

Amelie May: – wo die Gedichte dann in kleinen Kügelchen zu erhalten sind für fünfzig Cent. Drei Gedichte pro Stipendiat:in, in verschiedensten Formen und Längen. Da sind wir wieder beim Analogen. Daran sieht man, dass die Texte der Stipendiat:innen wunderbar auch in diesem Format funktionieren.

Gesa Schönermark: Der Automat wird dann beim Lyrikfestival auch im Literaturhaus sein.

Gesa Husemann: Es gab diesen tollen Schlachtruf vom Berliner Verlagshaus: Poetisiert euch! Der Automat ist vielleicht unsere Art, das umzusetzen. Besser kann man es eigentlich nicht treffen, das ist unser Anliegen: Poetisiert euch! Wir haben es leider nicht selbst erfunden (lacht).

Worauf freuen Sie sich persönlich besonders?

Gesa Schönermark: Ganz bestimmt auf die Einführung von Anja Utler. Als sehr erfahrene, auch performativ sehr erfahrene Lyrikerin und Künstlerin hat sie sich dazu bereiterklärt, alle vier Stipendiat:innen aus einer künstlerischen Perspektive in den Blick zu nehmen. Aber ich freue mich auf jeden Slot, weil wir auch noch keinen erlebt haben. Und ein sehr besonderes Element wird sicher handverlesen sein, die gehörlosen und die hörenden Dolmetscher, die wir dahaben werden.

Gesa Husemann: Wir im Literarischen Zentrum haben noch nie den Formatbegriff Lecture-Performance verwendet, und der ist wie für Anja Utler gemacht. Sie ist eine der bekanntesten Lyrik-Performance-Künstlerinnen, die seit langer Zeit auf Bühnen stehen. Das wird gut. Und wenn Giorgio Ferretti seinen Treppenläufer macht! Wir mussten nochmal nachgucken, das ist wirklich dieses Kinderspielzeug, was von einer Treppenstufe zur nächsten läuft. Es geht um das Prinzip, dass der Anfangsvers in den nächsten übergeht, erweitert wird. Das sind so schöne Konzepte und durchdachte Ideen.

Amelie May: Der Treppenläufer ist ein tolles Sinnbild für das ganze Festival: Im Übergang gibt es immer Berührungs- und Anschlusspunkte, es gibt kein Aufhören. Ich freue mich darauf, dass so viele kluge und empathische Menschen aufeinandertreffen, die in ihren Kunstformen so ganz unterschiedlich sind und sich auch ganz unterschiedlich in der Gesellschaft verorten. Es gibt sehr politisch engagierte Lyrik, es gibt andere, die fast von einem radikalen Eskapismus geprägt ist. Ganz verschiedene Ansätze innerhalb eines ausgerufenen Ausnahmezustands, die aber doch zusammenkommen. Irgendwie auch ein kleiner Ort der Utopie inmitten von vielen Krisen.

Der Eintritt zum Lyrikfestival ist frei. Weitere Informationen zum Programm und zu den Stipendiat:innen können der Webseite des Literarischen Zentrums oder der Förderprogrammseite der Stiftung Niedersachsen entnommen werden.

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