Judith Hermanns neuer Roman Daheim porträtiert eine Frau, die ihr altes Leben hinter sich lässt, um sich selbst wieder zu spüren. Zwischen unzähligen Schweinen und angsterfüllten Nächten schleicht es sich schließlich ein: das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Von Sophie-Charlotte Sonar
Ein alter Mann mit Schlangenlederschuhen betritt die Tankstelle und spricht die junge Frau an, die vor ihm in der Schlange steht. Genau richtig sei sie mit ihrer Größe, um sich von ihm, einem Zauberer, zersägen zu lassen. Kurze Zeit später folgt sie ihm schließlich nach Hause, ohne sich abzusichern, ohne etwas von ihm zu wissen. Warum sie keine Angst hatte? Das weiß diese Frau selbst nicht so recht. Auch nicht, als sie sich nach fast 30 Jahren plötzlich wieder an diese Begegnung zurückerinnert.
Sie ist nun 47 Jahre alt, Mutter, Ex-Frau, wurzellos. Aber schon immer romantisierte sie die Tankstelle gegenüber ihrer Wohnung, die Aufbruchsstimmung, die sie in den gehetzt tankenden Menschen zu erkennen glaubte. Ein guter Ort, um selbst aufzubrechen. So begibt sie sich auf ihre erste große Reise – wenn auch nicht mit dem fremden Zauberer auf ein Kreuzfahrtschiff.
Die Entfremdung vom Vertrauten
Von ihren Reisen bringt sie stattdessen Otis mit, der schließlich der Vater ihrer Tochter Ann, ihr externes Gedächtnis auf zwei Beinen und ihr Mann wird. Letzteres ist er nicht mehr, und doch kann sie nicht anders, als noch so über ihn zu denken. Wirklich von ihm los kommt sie nicht. Noch immer schreibt sie ihm Briefe und telefoniert ihm nach. Sie möchte wissen, was er tut, seit die Tochter aus dem Haus ist. Schließlich war das der Wendepunkt in ihrer Beziehung. Sie blieben genauso lange zusammen, wie sie es mussten, um die gemeinsame Tochter ins eigene Leben zu entlassen.
Das anfängliche Verliebtsein, das Elternwerden, das letztliche Sich-Darüber-Verlieren. Hermann entfaltet diesen Prozess der Entfremdung über eindrucksvolle Bilder des Alltags, die unter die Haut gehen – nicht zuletzt, weil sie den Schmerz der Protagonistin über den Verlust ihres bisherigen Lebens, den sie sich selbst lange nicht eingesteht, erst wirklich erahnen lassen. So wird der Esstisch des Paares, wie im Zeitraffer betrachtet, zu dem Ort, an dem die Sanduhr ihres gemeinsamen Lebens kontinuierlich abzulaufen scheint, bis das letzte Körnchen schließlich fällt: zunächst ist es noch der eine geteilte Teller zu Beginn der Liebe, als man sich noch so nah sein wollte wie nur möglich, aus dem schließlich getrennte werden, als sich das neue Glück mit seinem Giraffen-Kinder-Teller dazwischenschiebt. Ein Glück, das nur solange währt, bis der dritte Teller und mit ihm der Kitt der Beziehung wieder verschwunden ist, die Tochter auf Reisen geht. Dann hält es die Protagonistin nicht mehr aus. Auch sie muss weg.
Aufbruch in ein neues Leben
Es zieht sie an die Küste, ans Meer, zum Arbeiten in die Kneipe ihres Bruders, der in einer toxischen Beziehung zu einer 40 Jahre jüngeren Frau steckt. Auch wenn er da ist, fühlt sie sich allein. Alleine in einem Haus, in dem die Türen mitten in der Nacht vom Wind aufgeschlagen werden und ein Marder auf dem Dachboden sie um den Schlaf bringt. Als die Angst sie zu überwältigen droht, bewaffnet sie sich bis an die Zähne mit Pfefferspray und Türriegeln. Sie kommt sich albern vor dabei, aber anders kann sie nicht. Früher hatte sie nie Angst.
»Was trinkst du, seitdem Ann und ich weg sind und du ganz allein bist?«, will sie von Otis wissen, und ein bisschen klingt das bissig, wäre da nicht der eigene Schmerz, die ersten Veränderungen, die bei ihr einsetzen und ihr vor Augen führen, dass sie sich sukzessive von ihrem alten Leben löst. Allein ist sie nicht mehr, ihre Nachbarin Mimi, die sie für ihre Widerstandskraft und Sorglosigkeit bewundert, hat sich ihrer angenommen. Und Darjeeling mit Honig trinkt sie auch nicht mehr. Nur noch Assam mit Milch.
Skurrile Begegnungen
Mit Mimi beginnt die Protagonistin erst, das Leben um sich herum wirklich zu erfahren. Sie geht raus und trifft Leute, bei denen man sich fragen muss, wo Hermann sich eigentlich für ihre Figuren hat inspirieren lassen. Die Jugend kommt bei ihr nicht gut weg, die 20-jährige Nike, Freundin ihres Bruders, textet nur in kryptischen Kürzeln à la OMG und HDL, macht Selfies mit Hasenohr-Filtern und ist generell unflätig, ungepflegt und ohne jede Scham. Das ist noch verschmerzbar, denn lernt man erstmal die Hintergründe dieser tragischen Figur kennen, erklärt sich ihr Verhalten. Aber auch die Tochter der Protagonistin streut in ihrer Erinnerung Anglizismen ein, von denen nur jemand mit Distanz zur Jugend denken kann, sie würden tatsächlich genuin in Gesprächen Ü18 Verwendung finden. Niemand, aber wirklich niemand begrüßt sich mit »Hey Dude«.
Judith Hermann
Daheim
Fischer: Frankfurt am Main 2021
192 Seiten, 21,00€
Wirklich kurios wird es dann aber vor allem in der Beziehungsdynamik, die sich zwischen der Protagonistin und Mimis Bruder Arild, dem Schweinebauern, entwickelt. Arild ist schweigsam, simpel, abweisend. Nicht einladend jedenfalls, und dennoch fühlt sie sich auch ohne Worte zu ihm hingezogen. Er lädt sie, zu ihrer eigenen Überraschung, zum gemeinsamen Kochen zu sich nach Hause ein, auch wenn sie sich gar nicht miteinander unterhalten können – ein Treffen zum Schweigen, bei dem sie sich in Stille verharrend dennoch wie zwei Magnete anzuziehen scheinen.
Es kommt zu Intimitäten, die so unerotisch sind, dass es eine:n beim Lesen fast schon graut. Und doch finden sie immer wieder zueinander, vielleicht nur, um sich über die Einsamkeit hinweg zu helfen, vielleicht aber auch nicht. Das bleibt, wie so vieles im Roman, unausgesprochen, allenfalls angedeutet. Und so bleibt die ohnehin bereits namenlose Protagonistin dem:r Lesenden wohl mindestens ebenso fremd, wie sich ihr jüngeres Ich in der Reflexion nun ihr selbst darstellt. Manches muss aber vielleicht auch einfach unausgesprochen bleiben, um in seiner Rätselhaftigkeit zu wirken und den Lesenden die teils unverständlich und widersprüchlich anmutende Sprunghaftigkeit, die mit der späten Identitätssuche einhergeht, vor Augen zu führen.
Ohnehin sind jedoch weder Arild noch die Protagonistin der Typ dafür, die eigenen Empfindungen nach außen zu tragen und sich zu offenbaren. Und wenn doch, dann versteckt es Hermann unter ihrem bekannten trocken-nüchternen Schreibstil, der dafür sorgt, dass dem Geschehen stets ein Hauch des Gleichgültigen, des Beiläufigen anhaftet. Diesen Schreibstil Hermanns, der das Geschehen vor allem schlagwortartig in parataktischen Satzstrukturen vorbringt, vieles im Verborgenen lässt und damit eine gewisse Distanz zum Erzählten erzeugt, kann man mögen oder nicht. Die Welt, die sie entwirft, ist jedoch in jedem Fall den Versuch wert, sich auf die ersten Seiten und deren Wirkung einzulassen. Mitfühlen lässt es sich trotzdem, und das vielleicht sogar besser, als würde jeglicher Gedanke en detail ausgeschmückt. Die entstehende Gefühlswelt wird bei Hermann nun einmal nicht durch die Figuren vorgekaut – sie entfaltet sich beim Lesen.
Was kommt, wenn alles geht
Wenngleich Hermann schon große Erfolge feierte, so musste sie sich doch schon einiges von Kritiker:innen gefallen lassen: Zu weiblich seien ihre Werke schon gewesen, zu naiv ihre Figuren, zu trivial das Geschehen. Für Daheim, das in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, wird Hermann nun gefeiert – und dabei scheint es ihr zu gelingen, die zuvor kritisierten Attribute ins Positive zu verkehren. Weiblich ist auch dieser Roman allemal, denn obwohl der Schreibstil gewöhnungsbedürftig sein mag, so besteht doch die eigentliche Kunst Hermanns vor allem darin, ihre Protagonistin gekonnt in einem wabernden Dazwischen zu verorten: als Mutter, die immer für ihr Kind gelebt hat, aber realisiert, dass sie nun loslassen muss, um ihr eigenes Glück wiederzufinden. Als Ex-Frau, die sich dabei ertappt, wie sie die Wohnung ihres Ex-Mannes meint, wenn sie von Zuhause spricht. Eine Frau, die eine ungeahnte Sehnsucht nach all dem entwickelt, was sie einst hatte, und nicht bemerkt, dass sie in ihr neues Leben bereits hineinwächst.
Subtil wie treffend verhandelt Hermann in diesem Roman die Suche nach Identität und die damit verbundene Neuerfindung des eigenen Selbst in all ihren Facetten, zwischen den Zweifeln an Vergangenem und dem Reiz des Neuen. Und sie macht durch ihre Erzählsprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart deutlich, was auch die Protagonistin realisiert, als sie, die sich nie erinnern musste, plötzlich von der Wucht der Erinnerungen überwältigt wird: Das Neue existiert nicht ohne das Alte. So zehrt die Protagonistin in ihrem Aufbruch von all dem, was sie hinter sich lässt – als Frau mit Vergangenheit, die lernt, ihrer bisherigen Ohnmacht zu entwachsen und für sich selbst einzustehen. Einen wirklichen Spannungsbogen sucht man vergeblich – wenn man ihn denn sucht. Denn auch ohne große Katastrophen vollzieht sich schleichend der Umbruch im Leben der Protagonistin und regt zum Nachdenken über den eigenen Platz im Leben an.