Den Menschen aus der Ukraine muss Gehör verschafft werden, nicht nur auf thematischer Ebene, sondern auch durch Kunst. Die Ausstellung »Home Behind« gewährt einen wahren Einblick in das Leben von Menschen, die gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen.
Von Malena Hager
Bild: Mehnoush Aboutorabi
Im Kulturwissenschaftlichen Zentrum sehen sich Studierende und Lehrende der Universität Göttingen derzeit mit Bildern konfrontiert, die starke Emotionen auslösen können. Die Ausstellung »Home Behind« wurde ursprünglich in Kassel gezeigt und durch das Projekt »Welcome« für ukrainische Geflüchtete gefördert. Möglich gemacht haben sie Kuratorin und Projektleiterin Maria Radzikhovskiy sowie das Sara-Nussbaum-Zentrum für Jüdisches Leben. Die Dozentin Svitlana Adamenko vom Seminar für Slavische Philologie brachte die Ausstellung nach Göttingen. Mit dieser Ausstellung haben sich die ukrainischen Künstler:innen Alina Zakharchuk, Olena Yushchenko und Emil Mamedov zur Aufgabe gemacht, persönliche Geschichten aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der nun seit 16 Monaten andauert, darzustellen und zu teilen. Zur Eröffnung wurde unter anderem eine Reihe von Musikstücken gespielt, besonders Maria Parkhomenko hinterließ mit ihrer Bandura, einem traditionellen ukrainischen Volksinstrument, einen bleibenden Eindruck.
Ziel der Ausstellung ist es, auf einfache Weise Schweres zu vermitteln. Es ist notwendig, denjenigen zuzuhören, die es am schwersten haben. Die Ausstellung will Menschliches zeigen und an die Menschlichkeit appellieren. Professor Uwe Junghanns, Direktor des Seminars für Slavische Philologie, wies zur Eröffnung darauf hin, dass die Bilder berichten – »nicht pur realistisch, wie es etwa die Bilder in den Medien tun, sondern so, wie nur Kunst es kann«. Das Projekt solle, so Maria Radzikhovskiy, auf eine künstlerische Art und Weise einen, wenn auch geringen, Beitrag zur Heilung leisten, und zwar durch das Mittel der Empathie. Es sei Empathie, die ermögliche, Schmerz nachzuempfinden, vor allem aber auch für die unmittelbar vom Krieg betroffenen da zu sein und ihnen zu helfen. So soll »auf sensible Weise die Geschichten und Schicksale der vom Krieg betroffenen Menschen sichtbar machen«. Durch diese Ausstellung wird einer:m die Gefühlswelt der Menschen nähergebracht, die zu einem Abschied von ihrem Zuhause und allem, was dazu gehört, gezwungen werden.
Der verlorene Frühling
Das Fotoprojekt »Home Behind« von Alina Zakharchuk zeigt unterschiedliche Gegenstände, die Geflüchtete auf ihre Reise mitgenommen haben. Zu jedem Bild gehört ein kurzer Text, der den persönlichen Wert dieses Objekts versucht in Worte zu fassen. Interessant ist, wie viele dieser Gegenstände mit Kunst zu tun haben. Einige haben ihr Musikinstrument eingepackt, andere ihre Pinsel zum Malen. Wiederum andere haben für sie angefertigte Kunst mitgenommen wie handgefertigte Kissen oder Kettenanhänger. Doch alle haben sie etwas gemeinsam: Sie werden durch Kunst und Schaffen ermutigt, auf fremdem Boden weiterzuleben. Dadurch kommt zum Vorschein, was für einen enormen Stellenwert die Kunst im Leben der Menschen hat. Einerseits hilft sie dabei sich auszudrücken; andererseits verbindet sie Menschen miteinander und ermöglicht es, andere zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen.
Marcel Proust stellt in seinem Klassiker À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) die These auf, verlorene Zeit könne durch Erinnerung konserviert oder am Leben erhalten werden. Doch handelt es sich bei verlorener Zeit nicht zwangsläufig um die Vergangenheit. Menschen, die gezwungen sind, ihr Zuhause auf der Stelle zu verlassen, werden ihrer Gegenwart beraubt. Der Frühling, der ihnen Freude und Leben bringen sollte, wird ihnen weggenommen und ersetzt durch einen falschen Frühling voller Gewalt und Tod. Die Gegenstände aus dieser Fotoserie verbinden diese Menschen im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer Heimat. Der beste Weg, diese Verbindung am Leben zu erhalten, ist Kunst. Ebenso wie Proust seine verlorene Zeit durch Verschriftlichung in einem permanenten Kunstwerk festhält, bewahren die Geflüchteten ihre verlorene Zeit, ihre Heimat, in diesen Objekten auf. Mehr noch, durch diese berührenden Fotos wird ihre Geschichte verewigt.
Hoffnung in der Dunkelheit
In einem Bunker in der Ukraine begann Emil Mamedov an seinem Projekt »Cloudiness Resilience« zu arbeiten. Umzingelt von Angst und einem schier unüberwindlichen Gefühl der Bedrohung nahm er die Welt zu diesem Zeitpunkt als dunkel wahr. Viele Städte in der Ukraine wurden der Tarnung wegen verdunkelt, um Angriffe zu erschweren. »Es blieben nur Angst, Leere und der Sternenhimmel«, so die Worte des Künstlers. Sein Projekt besteht nicht nur aus Zeichnungen. Skulpturen mit beiliegender Textbeschreibung erzählen die besondere Geschichte eines zweigeteilten Baums in der Ukraine, der an die Grausamkeit der Entwurzelung erinnert. Auf seinen Zeichnungen sieht es aus, als würde ein riesiger unheilvoller Schatten über der Stadt liegen, vor dem die Menschen sich bloß verstecken können und warten, bis alles vorbei ist. In den Bildern scheint es fast so, als hätte das Licht den alleinigen Zweck, die Dunkelheit zum Vorschein zu bringen. Die Bilder sind ehrlich und versuchen nicht, die Realität zu verherrlichen. Denn gegen diesen Schatten sind sie machtlos.
Künstlerin Olena Yushchenko verschafft mit ihrer Zeichnungsreihe »Children of War« einen Einblick in die Welt der Unschuldigsten von allen, die der Kinder. Die einfallsreichen Darstellungen erinnern trotz ihrer spielerischen Art an die unermessliche Dunkelheit, der diese im Krieg ausgesetzt sind und aus der dennoch hoffnungsvolle Bilder entsprungen sind. Dort finden sich unter anderem Bäume, Fledermäuse und Eulen und vor allem weit geöffnete Augen wieder. Augen, die für alles empfänglich sind. Sie sind weiß auf schwarzem Hintergrund, sie kämpfen wagemutig mit der Kraft der Fantasie gegen die allgegenwärtige Angst und Hoffnungslosigkeit an. Kinder suchen ihren eigenen Weg, der Gewaltsamkeit und Finsternis der Erwachsenenwelt zu entkommen. Besonders eine Abbildung von einem kleinen Igel, dem ein glänzender Apfel hingehalten wird, zeigt abgesehen von kindheitlicher Naivität auch wahre Freude und Hoffnung. In diesen Bildern steckt ein Glaube an eine Zukunft mit Frieden. Die künstlerisch hochwertige Ausstellung macht auf offene Wunden aufmerksam und vermag es möglicherweise, ein Stück des Leids erträglicher zu machen.