Einen Roman über den Holocaust aus der Sicht eines SS-Schergen zu schreiben, ist eine heikle Angelegenheit. Vor beinahe fünfzig Jahren unternahm Louis Ferron mit Der Schädelbohrer von Fichtenwald das Wagnis – jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen.
Von Simon Gottwald
Der bucklige SS-Mann Friedolien, Erzähler von Louis Ferrons Der Schädelbohrer von Fichtenwald, ist Aufseher in einem Sanatorium namens Fichtenwald und kümmert sich mit wohlwollender Belustigung um die Patienten. Zumindest behauptet er das. Wachtürme, elektrische Zäune und prügelnde SS-Schergen weisen in eine andere Richtung, die Friedolien entweder nicht wahrhaben will oder tatsächlich nicht begreift.
Dass in dem Lager Menschenversuche durchgeführt werden, ist ein offenes Geheimnis, an dem Friedolien nichts auszusetzen findet und das er sich lange Zeit als Behandlung der vermeintlichen Erkrankungen der Gefangenen erklärt. Ohnehin hat er anderes im Kopf als seine Arbeit, etwa seine Liebe zur Frau eines Kriegsgewinnlers.
Der Name des Lagers Fichtenwald lässt nicht ohne Grund an das KZ Buchenwald denken, wie Jan Konst in seinem Nachwort herausarbeitet: Ferron hat bei der Arbeit an seinem Roman umfassend auf historische Quellen zurückgegriffen und tatsächliche Personen verzerrt eingearbeitet, er zitiert sogar aus Briefen, die der SS-Arzt des KZ Dachau und Heinrich Himmler einander schickten.
Im Grenzbereich von Fakt und Fiktion
Vieles ist unsicher; sehr schnell kommen Zweifel an Friedoliens Zuverlässigkeit auf, und sehr schnell verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, zwischen Wahn und Traum. Friedolien entdeckt etwa seine fetischistische Vorliebe für Frauenkleidung, an deren Ausleben die nächtlichen Schreie der gequälten Insassen ihn nicht hindern, er erwischt Hermann Goering bei einem Einbruch oder später während autoerotischer Praktiken, bei denen ein Streichholz eine wichtige Rolle spielt.
Die Köpfe des Regimes sind in Friedoliens Augen Götter, böse und ungerecht zwar, aber mächtig und unantastbar, selbst in Momenten, in denen sie sich völlig enthemmt zeigen und die Perversion des Regimes ungeniert zeigen, seine moralische Verkommenheit genauso wie die sexuellen Obsessionen der Täter.
Wie der Erzähler in Edgar Allan Poes Imp of the Perverse scheint auch Friedolien häufig angetrieben von einem seltsamen Verlangen, sich selber zu schaden, indem er das Verpönte oder Verbotene tut. So lässt er eine Aufführung der Penthesilea des leitmotivisch zitierten Heinrich von Kleist (Wikipedia gibt einige Rahmeninformationen zur Kleist-Rezeption in der NS-Zeit) auf groteske Weise platzen, wieder und wieder sucht er die Nähe zu drei im Lager versteckten Juden, die nur zu verständlich nichts mit ihm zu tun haben wollen.
Eine Frage, die sich aufdrängt, lautet: Darf man das? Darf man den Holocaust, die unfassbaren Verbrechen der massenhaften Ermordung und grausamer Menschenversuche, mit den Mitteln der Groteske darstellen, darf man dabei Realität fiktionalisieren und aus der Perspektive eines Täters erzählen, der kein »schwarzer Gott« (so das Epitheton, mit dem Friedolien Heinrich Himmler versieht) ist, sondern ein perverser kleiner Wicht?
Louis Ferron
Der Schädelbohrer von Fichtenwald – oder – die Metamorphosen eines Buckligen
Übers. von Ulrich Faure
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis: Berlin 2023
448 Seiten, 28,00€
Man darf – solange der wirkliche Schrecken nicht verharmlost, die Untaten nicht kleingeredet werden. Gerade durch die Konstruktion seines Erzählers gelingt es Ferron, trotz der Täterperspektive kritischen Abstand zum Geschilderten zu bewahren und gleichzeitig die wahnhaften Vorstellungen der NS-Zeit mit einer beunruhigenden Intensität darzustellen, die mit dem Blick von außen vielleicht gar nicht möglich wäre.
Deutsche Übersetzung nach 50 Jahren
Bei alledem ist Ferron ein packender Erzähler, der eine morbide Faszination für Friedoliens Exzesse und Gedankengänge vermitteln kann und dessen Worte auch in den grausigsten Szenen leichtfüßig wirken.
Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Der Schädelbohrer von Fichtenwald auf Deutsch erschienen ist. Dafür, den niederländischen Roman in der Übersetzung von Ulrich Faure endlich einem deutschsprachigen Publikum verfügbar gemacht zu haben, ist dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis zu danken. Gerade heute, in Zeiten immer tieferer Spaltungen und erstarkender gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, was niemals wieder geschehen darf.
Ferron schrieb noch weitere Deutschland-Romane. Bleibt zu hoffen, dass sie und auch sein restliches Werk in absehbarer Zeit dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung stehen werden.