Der Diebstahl in der Musik

Im Literarischen Zentrum Göttingen diskutieren beim Liederabend »Liebe und Diebstahl: Cover-Storys« die Literaturwissenschaftler und Popexperten Gerhard Kaiser und Christoph Jürgensen über Cover-Songs und ihre Originale. Dabei erzählen sie Anekdoten und diskutieren humorvoll, aber gelangen mit Verlauf des Abends auf immer ergreifenderes Terrain.

Von Luis Pintak

Bild: Literarisches Zentrum Göttingen

Schon während man auf den Beginn des Liederabends im Saal des Göttinger Literaturhauses wartet, kann man sie hören: Cover-Songs, ob Lullaby of Birdland in der Version von Sarah Vaughan und Clifford Brown oder They Can’t Take That Away From Me in Billie Holidays Version. Es ist eine passende Einstimmung zum Themenabend »Liebe und Diebstahl: Cover-Storys«, durch den Gerhard Kaiser, Professor für deutsche Gegenwartsliteratur an der Uni Göttingen, und sein Kollege Christoph Jürgensen, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, führen. Kaiser gesteht später: Selbst der Titel der Veranstaltung, »Liebe und Diebstahl«, sei von Bob Dylans Love And Theft geklaut, und auch Bob Dylan habe sich den Titel nicht selbst ausgedacht.

»Keine Angst, ich nenne keine Publikationen«

Zunächst Anna-Lena Markus vom Literarischen Zentrum erklärt dem Publikum zunächst, dass bereits seit 2013 die Tradition der Liederabend-Reihe mit Gerhard Kaiser als Kurator bestehe. »Fast gerührt« stellt Kaiser seinen Kollegen und Freund Christoph Jürgensen »nur kurz« vor, das Publikum brauche also »keine Angst« vor der Nennung langer Publikationslisten haben. Stattdessen hebt Kaiser besonders einen Aufsatzband zum Jahr 1967 als Schaltjahr der Rockmusik hervor, an dem Jürgensen als Popexperte mitgearbeitet habe.

Beide versuchen zunächst eine Definition über gelungene und misslungene (kulturelle) Aneignung anhand des Sachbuchs Ethik der Approbation von Jens Balzer herauszuarbeiten. Denn: An diesem Abend geht es eben um die Frage nach Diebstahl im Musikbetrieb. Wer darf sich etwas aneignen, in Form von Musik beispielsweise, und es als etwas eigenes auf den Markt bringen? »Schwierig« nennt Jürgensen die Bestimmung der Kriterien. Gerade eine gelungene Aneignung respektvoller Art sei schwierig festzustellen. Für ihre Diskussion lösen sie sich deswegen schon bald von Definitionen und analysieren anhand eigener Feststellungen mehrere Original- und deren Cover-Songs von 1936 bis in die Gegenwart, deren Coverversionen sich teils erfolgreicher oder anderweitig bedeutsam herausgestellt haben.

»Schwierig«: Weniger Diebstahl, sondern eher Wiederbelebung 

Exemplarisch zeigen sie den Song Crossroads. Gebannt hört das Publikum dem Gesang von Robert Johnson aus dem Jahr 1936 zu. Auf einem Bildschirm läuft parallel ein Video, das verschiedene Motive aus dem Song aufgreift. Man hört den technisch ein wenig an Bessie Smith erinnernden Blues-Gesang von Johnson, dazu harte und dynamische Gitarrenmelodien als Begleitung. Dann folgt das Cover der Band Cream von 1968, das sich durch den soften Gesangsstil des Gitarristen und späteren Solo-Künstler Eric Clapton auszeichnet, dazu die rockige Begleitung der E-Gitarren. Fast drastisch wirkt der Zeitsprung, das Cover weich und popularisiert. Gerade hier lassen sich in den Gesichtern des Publikums Fragezeichen ablesen: Ist es nicht Diebstahl, einen Song zu nehmen und völlig anders darzustellen?

Positiv ist schon hier das Detailwissen der beiden Experten hervorzuheben, doch richtig beantworten lässt sich die Frage um Diebstahl zunächst nicht. »Schwierig« nennt Jürgensen sie erneut. »Es muss irgendwie was weg sein«, was aber nicht der Fall sei. Im Gegenteil: Johnson und damit auch der Song sei in den 1960ern »völlig verschwunden« gewesen, so Kaiser, durch die Band sei er wieder in das Bewusstsein der Menschen getreten. Zwielichtig scheint das Terrain des Covers dennoch zu sein: Eric Clapton sei »mit rassistischen Äußerungen in den frühen 1970ern« aufgefallen, habe den Blues aber auch gefördert. In den Rolling Stones-Besten-Listen stehe Johnson »weit oben«, so Jürgensen.

Der Hund ridikülisiert: Black Sabbath und Cindy & Bert

Cover-Storys sind also vielschichtige Angelegenheiten, eine Kehrseite ist immer vorhanden. Auch Kritik strahlt eine Cover-Story aus, wie beispielsweise bei Toxic von Britney Spears und dem Cover von Jochen Distelmeier. Spears’ Version ist grell, aufgeladen und schrill, Distelmeiers Version ein von Dichte, »mehr Dialog« getragenes Ein-Mann-Stück. Jürgensen meint, Distelmeier reagiere »komplett auf die Bildsprache bei Britney Spears«, indem er in einem Raum mit nur wenig Licht Gitarre spiele. Die Version sei »systemkritisch« bezüglich des Pomps in Spears‘ Original, aber auch nicht ironisch, sondern ernst gemeint. »Distelmeier kann nicht mit Ironie arbeiten«, meint Kaiser.

Auch im Verlauf der Diskussion zwischen Kaiser und Jürgensen zeichnet sich ein hohes Anekdoten-Reichentum ab. Jürgensen erzählt beispielsweise, dass er Distelmeier neulich im Zug getroffen habe, wo ihn dieser für sein T-Shirt gelobt habe. Auch muss ich lautstark lachen, als Paranoid von der britischen Heavy-Metal-Band Black Sabbath von 1970 und dann das Cover Der Hund von Baskerville des deutschen Schlagerduos Cindy & Bert gespielt werden. Es wirkt fast ein wenig irreal, Schlager und Heavy Metal nebeneinander zu sehen. Doch rockig ist das Cover allemal, für Jürgensen vielleicht auch eine Parodie: Vor allem die steife Mimik des Duos und der Pekinese neben ihren Füßen »ridikülisiert« für ihn die Darstellung. Schauspiel und Musik seien im Übrigen gelungen.

Von der Bedeutungslosigkeit und ihrer Interpretation

Doch nur durch Lacher zeichnet sich der Abend nicht aus, sondern auch durch Komplexität. »Bis heute rätselhaft« ordnen die Experten A Whiter Shade Of Pale der britischen Gruppe Procol Harum ein. Der Original-Text sei mitunter »sehr bedeutungsarm«, so Jürgensen. »Man sucht und findet nichts«, fügt er bezüglich der schwierigen Interpretation hinzu. Umso besser lässt sich dagegen wohl das Cover fahler nur als fahl der deutschen Band Erdmöbel im Vergleich zum Original einordnen: So interpretiere die Band zwar einzelne Verse anders, bewahre aber eine gewisse Ähnlichkeit. Dies ist beispielsweise am ersten Vers des Originals »We skipped the light fandango« und dem deutschen Vers »Wir tanzten den Fandango« zu sehen, wo sich zwar Differenzen ergeben, aber dennoch eine Klangähnlichkeit vorhanden sei. 

»Ergreifend«: Johnny Cashs Cover Hurt

Hoch emotional bildet der Song Hurt den Schlusspunkt des Abends. Im Video des Originals von Trent Reznor ist nur das Cover des Albums The Downward Spiral zu sehen; während des Gesangs hört man fließende, erst melodisch zugängliche Gitarrenklänge, die am Ende eines jeweiligen Verses in schräge Akkorde verfallen. Im Song geht es wohl um Drogenabhängigkeit, Suizid-Gedanken und Depressionen. Dann kommt die weitaus bekanntere Version von Johnny Cash aus dem Jahr 2002. Im Video ist ein von Krankheit und Alter gezeichneter, Gitarre spielender Johnny Cash zu sehen, alles ist stark bebildert – von Jesusfiguren bis zu Konzerten, Familienbildern, Holzhütten und immer Cash, auch am Flügel sitzend. Als das Video stoppt, wird es plötzlich ganz still im Saal, alle wirken von dem Song bewegt, berührt. Kaiser beschreibt das Cover als »ergreifend«, Jürgens findet es »spannend, wie er sie zu seiner eigenen Version« mache. Das Cover zeige große Authentizität bezüglich der persönlichen Note durch Cashs Stil und wohl auch seiner Anwesenheit als alternder Mann. Solch ein Projekt »würde man sich auch mal von Udo Lindenberg wünschen.«

Cover-Storys haben immer mehrere Seiten

Mit viel Gespür für die richtigen Nuancen leiten Gerhard Kaiser und sein Kollege und Freund Christoph Jürgensen durch eine Reihe von Songs aus mehr als 80 Jahren Popgeschichte. Obwohl sie anfangs versuchten, eine Definition für gelungene bzw. misslungene Aneignung im Kulturbereich auszumachen, arbeiten sie sich nicht starr an dieser ab, sondern gehen immer im Einzelfall auf die herausstechenden Aspekte des jeweiligen Covers und seines Originals ein. Das Experten-Duo gibt einige Anekdoten und unerwartete Fakten zum Besten, unterhält sich humorvoll und lässt das Publikum dabei immer tiefsinniger werdende Songs verarbeiten. So gibt es sowohl lustige als auch ernstere Hintergrundgeschichten zu bzw. Themen in den Songs und ihren Covern. An diesem Abend wird vor allem eins klar: Cover-Storys haben immer mehrere Seiten, was nie wirklich zu einer Verschlechterung führt. Von bloßem Diebstahl kann man deswegen nur bedingt sprechen. Allenfalls von einer Verbesserung, Wiederbelebung oder gar Neudeutung.

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