Carl-Christian Elze erzählt in seinem Buchpreis-nominierten Roman Freudenberg die Geschichte eines Jungen, der versucht, sein altes Leben hinter sich zu lassen und daran scheitert. Im Vordergrund steht dabei die surreale Erfahrung der Fremde und die Sehnsucht, jemand anderes zu sein.
Von Lea Hörmann
Die Geschichte beginnt mit einem normalen Familienurlaub an der Ostsee: das Meer und den Strand genießen, die Stadt erkunden und Sehenswürdigkeiten abklappern. Bei bestem Sonnenschein entzieht sich der 17-jährige Maik Freudenberg bereits weniger als eine Stunde nach der Ankunft im Urlaubsort Międzyzdroje der elterlichen Aufsicht. Zu überwältigend sind die Eindrücke und die Fürsorge der Eltern ist ihm lästig. Der gesamte Trip und vor allem das Hotel widern ihn an: Alles wirkt ungesund, wie totes Fleisch. Die Kissen auf dem Foyersofa erscheinen wie Fleischstücke, an die er sich anlehnen muss und der Teppich sieht aus wie fettiges, faseriges Gehacktes. Was er erlebt, scheint ein Vorbote für den Toten zu sein, den er kurze Zeit später findet.
Auch seine Zukunft wurde schon für Maik geregelt: Sein Vater hat für ihn eine Ausbildungsstelle bei einem befreundeten Metaller-Meister besorgt. Er hat zu lange gebraucht, sich zu entscheiden und so gibt es keine Möglichkeit, diesem vorbestimmten Leben zu entkommen. Um allein zu sein, verlässt Freudenberg also das Hotel und erkundet den Urlaubsort und den Strand. Dort, weit ab von allem Touristischen, findet er die Leiche eines Gleichaltrigen. Ob er vom Hang in den Tod gestützt oder ob etwas anderes geschehen ist, wird unbedeutend. Wie in Trance tauscht er mit dem Fremden die Kleidung, das Portemonnaie und die Identität – ›stirbt‹ und wird Marek Strzep.
Der Protagonist als dissoziativer Träumer
In Freudenberg sind die Leser:innen ganz nah bei Maik. Seine Eindrücke werden zu ihren. Doch mit diesen Eindrücken stimmt etwas nicht. Detailreiche Beschreibungen heben hervor, wie sehr er auf seine Umwelt achtet, mit welcher peniblen Genauigkeit er beobachtet. Unter Menschen ist Maik unsicher, mit ihnen weiß er nichts anzufangen. Viel lieber ist er ganz bei sich, in seinen Gedanken. Er verliert sich in Vorstellungen, die eine:n zuletzt an dem zweifeln lassen, was den Leser:innen erst sicher erschien. Wie in dissoziativen Phasen trennen sich Wahrnehmungen und Handlungen und die Grenzen zwischen Traum, Wahn und Wirklichkeit verschwimmen:
Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr Ungereimtheiten finden sich und so ist nicht klar, ob Maik wirklich all die Dinge sieht, die er beschreibt. Die Sprache verdeutlicht dies durch viele Vergleiche, Metaphern und Neologismen. So bekommt die Mutter die »Mutterstille«, den »Mutterkoffer« und im Schlaf die Bezeichnung der »Mutterpuppe« zugeschrieben, ein umgefallenes Moped sieht aus wie ein erschossenes Reh und sein Bett erscheint ihm wie ein Sarg, in den er sich legt. Maik selbst fühlt sich wie ein Toter, dessen Haut bereits nach der Erde riecht, in der er beerdigt wurde. Die Art und Weise des Erzählens lässt die Leser:innen stutzen und gewährt gleichzeitig einen Einblick in Freudenbergs Denkweise.
Der Zweifel an der eigenen Identität
Carl-Christian Elze
Freudenberg
Voland&Quist: Berlin 2022
176 Seiten, 24,00€
Die Identität des verstorbenen Marek Strzep spielt kaum eine Rolle. Hingegen stellt sich vielfach die Frage, wer Maik ist. Seine Wahrnehmung ist oft entkoppelt, er verliert sich in sich selbst und schweift ab. Situationen, die er erlebt hat, wiederholt er im Geiste, fügt sie neu zusammen wie eine Montage und flieht dadurch aus seiner Realität. Carl-Christian Elze schafft die einzigartige Möglichkeit, Maik bei seinen Erfahrungen zu begleiten. Freudenberg wird erst kurz vor Schluss mit Vornamen genannt, als hätte es ihn zuvor nicht gegeben. Denn seine Geschichte ist die Geschichte des Scheiterns: Er scheitert bei seinem Versuch, vor sich selbst und seinem Leben zu fliehen, er scheitert in der Liebe und bei dem Kampf zurück in dieses Leben.
Die Identität mit einem toten Jungen zu wechseln, sollte nicht so einfach sein, wie es hier beschrieben wird. Dennoch wirkt der Vorgang logisch und machbar. Die Nähe zur Realität, erzeugt durch den realen Handlungsort und die nachvollziehbaren Vorgänge, versetzen die Leser:innen für eine kurze Zeit wirklich nach Polen an den Strand und in den Wald zu den Blaubeerbüschen. Im Kontrast steht dies zur Surrealität von Freudenbergs Erfahrungen und Beobachtungen.
Auch für die Leser:innen ist das Buch ein Fluchtversuch. Die Implikation, dass Smartphones noch nicht in das Leben von Jugendlichen integriert sind, deutet auf eine Zeit vor der großflächigen Digitalisierung hin. Eine Zeitreise in eine nicht allzu entfernte Vergangenheit, die unvernetzt und voller Möglichkeiten ist. Gerade die Abwesenheit der heutzutage allgegenwärtigen, ständigen Erreichbarkeit lässt die Geschichte surreal wirken.
Ein Fluchtversuch
Ironischerweise tauscht Freudenberg die Identität mit jemandem, der ebenfalls immer jemand anderes sein wollte. Es hätte genauso gut auch Freudenberg sterben können. So normal diese Geschichte beginnt, so sehr entfernt sie sich in ihrem Verlauf von der Normalität. Freudenbergs kontraintuitive Reaktion auf den Fund des toten Jungen markiert den Anfang einer außergewöhnlichen Reise.
Freudenberg ist Sinnbild für das Gefühl, festzustecken. Nachvollziehbar erlebt man Maiks Frustration. Die Entscheidung, eine neue Identität anzunehmen, wirkt völlig logisch. Maik Freudenberg traut sich, auszubrechen. Er scheitert, aber er versucht es. Somit ist er mutiger als die meisten und Freudenberg verdient zurecht seinen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.