In Kristine Bilkaus Roman Nebenan stehen zwei scheinbar gegensätzliche Frauen im Mittelpunkt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie lernen müssen, ihre eigene Stimme zu hören und sich und der Begegnung mit anderen bewusst Raum zu geben. Die Enge des Dorfes mit seinen seltsamen Begebenheiten ist dabei zugleich Spiegel und treibende Kraft gewaltigen inneren Wachstums.
Von Mareike Röhricht
In Kristine Bilkaus Roman Nebenan stehen zwei Frauen und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt: Julia ist 38, vor einem halben Jahr mit ihrem Partner Chris aufs Land gezogen und hat sich zugleich mit einem Keramikladen in der nahen Kleinstadt selbstständig gemacht. Astrid ist verheiratet mit Andreas, einem pensioniertem Geschichtslehrer, steht kurz vor der Rente und hat praktisch ihr ganzes Leben als Landärztin unweit ihres Heimatdorfes verbracht. Die eine plagt ein unerfüllter Kinderwunsch, die andere fragt sich regelmäßig, wie es ihren erwachsenen Kindern, zu denen der Kontakt eher sporadisch ist, denn wirklich geht.
Das fast 300 Seiten lange Werk ist eine diffuse Mischung aus Kriminalroman, Schauergeschichte und Gesellschaftsanalyse im Stil eines Dorfromans. Entsprechend vielseitig sind die Fährten, die in der episodenhaften Erzählung hinsichtlich der verschiedenen Rätsel ausgelegt werden: Ein Postsack voller Briefe liegt eines Nachts auf der Landstraße. Plastikmüll wird im Nord-Ostsee-Kanal entsorgt. Eine Familie verschwindet spurlos. Ein anonymer Absender schreibt Briefe, in denen er seinem Unmut über die Landärztin auf einschüchternde Weise Luft macht. Ein städtisches Jugendwohnheim zur Ruine erklärt. Eine alte (zeitweise scheinbar verwirrte) Dame sucht ›die Mädchen‹ und vertraut ihrer Nichte an, dass ein Mann im Garten begraben liegt.
Kristine Bilkau
Nebenan
Luchterhand: München 2022
288 Seiten, 22,00 Euro
Der Wunsch nach Verbundenheit
Ähnlich undurchsichtig wie die – teils nur vermeintlichen – Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Rätseln und den Leben der beiden Frauen sind mitunter die Motivationen der Figuren – wenigstens zunächst. Doch insgesamt bleibt auch über den Schluss hinaus einiges im Ungewissen. Dabei ist die Verbundenheit in all ihren (un-)sichtbaren Facetten das Thema, das sich wie ein roter Faden durch den dritten Roman der Autorin zieht. Fest steht: Räumliche und emotionale Nähe fallen nicht zwangsläufig zusammen. Das wird Julia, einer der Protagonistinnen, unter den Strapazen einer Kinderwunschbehandlung schmerzlich bewusst:
Was nach Trotz und Resignation klingt, sind Erkenntnismomente, in denen sich lang verdrängte Gefühle allmählich bahnbrechen. Diese Momente werden von der Erzählstimme nicht weiter gedeutet, stellen aber markante Augenblicke eines inneren Wandels dar. So wird Julia sich im Laufe des Romans ihrer selbst und damit ihrer wirklichen Wünsche, Bedürfnisse und Nöte im Kontrast zu durch die Sozialisation erlernten Wünsche und Verhaltensweisen bewusst:
Von äußeren und inneren Beziehungen, neuen Problemen und alten Wunden
Beide Protagonistinnen scheinen auf ihre Art ein (Selbst-)Vertrauensproblem zu haben. Sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen werden dadurch negativ beeinflusst. Das beginnt beim nachbarschaftlichen Miteinander und zeigt sich desto stärker, je persönlicher die Bindungen sind: Julia rätselt, enttäuscht vom ausgebliebenen Abschied, beständig über den Verbleib der Familie von nebenan – die ohne Hab und Gut umgezogen zu sein scheint, so die Vermutung. Astrid hingegen fragt sich, was den Bruch in ihrer langjährigen engen Freundschaft mit ihrer Nachbarin Marli verursacht hat, während Julia wiederum feststellt, dass sie zu ihren einstigen Freundinnen quasi keinen Kontakt mehr hat.
Auch die Beziehungen ihrer Herkunftsfamilien beschäftigen beide Frauen. Und das mehr oder weniger zerrissene Innere der Protagonistinnen im Laufe der Erzählung (natürlich – aber wenigstens nur implizit) auf die Kindheit, genauer die früher oder später abwesenden Väter zurückgeführt. So lautet die Kindheitsgeschichte Julias in etwa: »Eine Ehe und ein Kind, beides zusammen, nichts für mich (…) Wieso ist ihr nie zuvor aufgefallen, welche Fragen sich daraus ergaben?« Astrid hingegen stellt fest:
Und natürlich wirken sich die bis auf die Väter zurückgeführten inneren Konflikt der Frauen sich auch auf ihre jeweils im Grunde mehr als nur guten Partnerschaften aus: In Folge dieses problematischen Verhältnisses zu sich selbst kann auch dort keine der beiden sich fallen lassen oder anvertrauen.
Heraklit: »Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.«
Beide sehnen sich nach Nähe und Geborgenheit, scheuen aber halbbewusst davor zurück, Nähe zuzulassen. Keiner der beiden gelingt es, sich mit ihren Sorgen und Nöten ihren Partnern anzuvertrauen. Beide Frauen fühlen sich allein, weil beide nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor sich selbst, ihren Gefühlen und ihren eigenen überhöhten Erwartungen (an sich selbst) flüchten. Astrid etwa will sich ihrem Mann hinsichtlich der anonymen Briefe, die sie zunehmend ängstigen, partout nicht anvertrauen:
Ähnlich schluckt Julia ihre Angst, ihren Frust, ihre Verletztheit über die unerfüllte Sehnsucht nach Mutterschaft und ihre (Selbst-) Zweifel mit Blick auf die Kinderwunschbehandlung herunter. Erst die Begegnungen mit Frauen aus ihrer Kindheit lassen die Protagonistinnen ihre jeweilige Vergangenheit und Gegenwart neu miteinander in Bezug zu setzen. Diese Begegnungen werden zu Impulsen für eine zugleich rationalere und empathischere Wendung nach Innen, zu einem Schlüssel zu mehr (Selbst-) Vertrauen:
Astrids Antwort auf mehr Stress war es immer mehr zu Schwimmen, mehr zu arbeiten – aber erst mit der Ruhe, die sie and er Seite ihrer Tante Elsa findet und den Tränen kommen die Dinge endlich in Fluss. Und auch für Julia hält das Wasser heilsame Erkenntnisse bereit, als sie mit ihrem Mann Chris im Kanal badet:
Innenschauen wie diese blitzen im Roman immer mal wieder auf, gewinnen erst in der Gesamtschau an Tiefe. Den sich wandelnden inneren Erfahrungswelten der Protagonistinnen steht im Außen das sich wandelnde Dorfleben gegenüber. Gemein ist beiden Entwicklungen die Leere und die Angst der Betroffenen vor der Veränderung und eine gewisse Ohnmacht, mit der sie dem Wandel gegenüberstehen. Das Dorf, wie auch die Stadt, werden wie biedermeierliche Stillleben beschrieben (die alles andere als still sind) und mehr als bloße Kulisse.
Die Raumsemantik eines Dorfromans
Bilkaus Werk ist somit ein klassischer Dorfroman, in dem Städter:innen – vermeintlich vor dem Trubel der Stadt – aufs Dorf fliehen, um dort festzustellen, dass nicht ihr Umfeld und ihre Mitmenschen und deren Erwartungen fliehen, sondern vor den eigenen inneren Widersprüchen und blinden Flecken, die sie bedrücken. Weitere Diskurse, die mit dem Dorfleben en passant verhandelt werden, sind die sozialen und ökologischen Sorgen einzelner oder bestimmter Gruppen, jeweils ignoriert von der lokalen Politik, fragwürdige Inszenierungen des Mutterdaseins und der klassischen Kleinfamilie via Social Media.
Im Roman geht es darum, sich und einander innen wie außen wieder bewusst Raum zu geben: Gefühle wollen zugelassen, wahrgenommen und gezeigt oder ausgesprochen werden – und dafür sind auch physische Räume der Begegnung nötig. Auch die Begegnung mit sich selbst braucht bestimmte physische Räume; Julia findet ihn in der von ihr eröffneten Keramikwerkstatt und Astrid im Haus ihrer Kindheit. Und in diesen Räumen ereignen sich schließlich auch die für den inneren Frieden der beiden Frauen entscheidende Begegnungen.
Die Vagheit vieler Schilderungen und Zusammenhänge mag zuweilen den Beigeschmack von Langeweile haben. Unzufriedenstellend mag sein, wie viel am Ende offenbleibt. Doch insbesondere im letzten Drittel nehmen die stillen Entwicklungen mit den Gesprächen an Fahrt auf. Dieser Dorfroman voller Gegensatzpaare lässt eines deutlich werden: Vertrauen und Verantwortung hängen eng zusammen. Und während das eine sowohl Zulassen als auch Loslassen verlangt, braucht das andere genauso oft Einmischung wie Enthaltung. Ein Roman, der seicht wirkt – aber stille Wasser sind bekanntlich tief.