Wahrheit ist subjektiv?

Die Menschen in der Türkei müssen zunehmend mit repressiven Maßnahmen, Einschränkungen und Verfolgungen seitens der Regierung rechnen. Anna Yeliz Schentkes Roman Kangal berichtet von Einzelschicksalen junger Leute, die von diesen Maßnahmen betroffen sind.

Von Miriam Bode

Bild: Via Pixabay, CC0

Anna Yeliz Schentke erzählt in ihrem Debütroman Kangal von Unterdrückung, Misstrauen und Verrat, aber auch von Freundschaft, Familie und Liebe in schwierigen Zeiten. Ohne den Namen des türkischen Präsidenten auch nur einmal zu erwähnen (im Roman heißt er nur »der, der keinen Namen braucht«), beschreibt Schentke die repressiven Maßnahmen der türkischen Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch 2016. Der Fokus liegt stattdessen auf den Figuren und darauf, welche Auswirkungen besagte Maßnahmen auf den einzelnen Menschen haben.

Dilek, eine junge Frau, beschließt, die Türkei zu verlassen und nach Deutschland zu fliegen. Zu groß ist die Angst, inhaftiert zu werden, weil sie unter dem Pseudonym »Kangal1210« regierungskritische Texte veröffentlicht. Tekin ist nicht erstaunt, als er feststellt, dass seine Freundin eines Tages nicht mehr da ist. Er kennt die Ängste, die sie hatte, die Sorgen, die sie sich gemacht hat. Folgen will er ihr nicht, er hat Eltern, um die er sich kümmern muss, einen Kampf, den er führen will. Ayla dagegen wohnt ihr ganzes Leben in Deutschland. Sie will es ihren Eltern recht machen, also erzählt sie nichts von ihrem Studium und nichts von ihrer Cousine, die ihr nach Jahren Funkstille schreibt und sich treffen will.

Von Istanbul nach Frankfurt

Dilek ist die eigentliche Hauptperson des Romans. Sie erzählt ihrem Freund Tekin von ihrer Ungewissheit und der ständigen Angst vor der Verhaftung, sagt ihm aber nichts, als sie nach Deutschland fliegt. Die Verhaftung einer Freundin war der letzte Anstoß, ihre Heimat, die Türkei, zu verlassen. In Deutschland angekommen, weiß sie nicht, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll und kontaktiert ihre Cousine Ayla, die in Deutschland lebt und aufgewachsen ist.

Dilek weiß nicht, ob sie Ayla trauen kann. Trotz der ehemaligen Verbundenheit zu der Cousine verspürt sie jetzt Misstrauen zu ihr, ihrer Familie und anderen Türk:innen. Sie weiß, dass viele Türk:innen, die in Deutschland leben, Erdogan gewählt haben: »Das sind die Leute, wegen denen ich gehen musste.« Den ganzen Roman über wirkt Dilek müde, hoffnungslos und desillusioniert. Seit sie in Deutschland ist, benutzt sie ihre Reichweite im Internet nicht mehr. Heißt es anfangs noch: »Wir mussten andere werden, um sagen zu können, was wir dachten. Lieber eine andere sein, als keine Stimme zu haben«, fühlt sie sich später »irgendwie kaputtgegangen, alt geworden von diesen Jahren, die sich anfühlen wie Jahrzehnte«. An ihr zeigen sich die Auswirkungen ständiger Furcht, Wachsamkeit und Hoffnungslosigkeit.

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Anna Yeliz Schentke
Kangal

Fischer: Frankfurt 2022
208 Seiten, 21,00€

Bleiben und Kämpfen

Tekin bleibt in Istanbul, »er will sich nicht vertreiben lassen« und versucht während des Romans herauszufinden, ob gegen Dilek ein Haftbefehl vorliegt, um sie zu überzeugen, gegebenenfalls zurückzukehren. Durch ihn lernt der oder die Leser:in Dileks und Tekins Freundeskreis kennen. Hilal, die lesbisch ist und als Folge queerfeindlicher Gewalt ein Auge verloren hat. Soraya, die für unbestimmte Zeit im Gefängnis ist. Und Sina, die sich Sorgen um ihren Freund macht, der wieder und wieder verhört wird. Tekin fällt es immer schwerer, zu entscheiden, wem er trauen kann.

Trotzdem wirkt er hoffnungsvoller als Dilek. Er vermisst seine Freundin, hat aber auch ein Ziel vor Augen. Er glaubt, dass es sich lohnt, zu kämpfen: »Irgendwann sind die Gefängnisse voll. Wir sind doch mehr.« Er weiß um Dileks Angst, stellt sich aber gleichzeitig die Frage, ob sie nicht vielleicht zu paranoid ist. Beantwortet wird diese Frage nicht, es bleibt dem oder der Leser:in selbst überlassen, Dileks Flucht für übertrieben zu halten oder Tekins Hoffnung für naiv.

Türkei oder Deutschland?

Ayla ist, im Gegensatz zu Dilek und Tekin, in Deutschland aufgewachsen und hat demzufolge ein anderes Verhältnis zur Türkei als ihre Cousine. Sie kennt die Türkei zunächst aus Besuchen bei Dilek und nach einem heftigen Streit der beiden Mütter nur noch aus touristischen Urlauben. Die politische Unterdrückung findet sie schlimm, kann sich aber das Ausmaß, das Dilek beschreibt, nicht vorstellen. Zwar glaubt sie ihrer Cousine, dass sie sich fürchtet, fragt sich aber, ob diese Furcht und das Misstrauen, das Dilek besonders gegenüber den in Deutschland lebenden Türk:innen empfindet, gerechtfertigt sind.

Ayla hat mit anderen Problemen zu kämpfen als Dilek. Sich muss sich gegenüber ihrer Familie rechtfertigen, ihren gewalttätigen Freund verlassen zu haben und verheimlicht ihren Eltern, dass sie die Universität besucht. Gleichzeitig ringt sie mit ihrer Identität als Türkin, die in Deutschland lebt, und ist hin- und hergerissen zwischen den Traditionen und der Verantwortung ihrer Familie gegenüber und ihren eigenen Zielen und Zukunftsvorstellungen.

Schlicht, subtil und trotzdem höchst emotional

Durch Rückblenden von Dilek und Tekin erhält der Leser oder die Leserin nicht nur einen Einblick in die politische Situation, sondern auch in das Leben des jungen Paares. In schlichten Nebensätzen erzählt die Autorin von Gesprächen über Serien und Bücher, während noch im selben Absatz die Verhaftung einer Freundin beschrieben wird. Anstatt ernste Themen zu verharmlosen, fällt es durch diesen fließenden Übergang leicht, sich mit den Figuren des Romans zu identifizieren und die Furcht als das Alltägliche zu sehen, das sie für viele Menschen der Türkei ist.

Auf die gleiche Weise wird der Rassismus, mit dem Ayla ihr Leben lang kämpft, dargestellt. Es gibt keine langen Erklärungen, sondern eingestreute Kommentare. Ayla vergleicht etwa ihren türkischen Namen mit einem Hund:  »Mit ihm findest du hier keine Wohnung.« Dilek erklärt, »von Hanau [habe] man auch in Istanbul gehört«. Dadurch wird das Unrecht nicht schöngeredet, sondern dem:der Leser:in wird verdeutlicht, wie alltäglich diese Situationen immer noch für viele Menschen in Deutschland sind.

Ambivalenz und Subjektivität als Grundlage der Erzählung

Trotz der Kürze des Romans, der zudem aufgeteilt ist in die Perspektive drei verschiedener Personen, ist das Buch überraschend berührend. Die Ansichten der Figuren sind nachvollziehbar, auch wenn sie oft nicht miteinander übereinstimmen. Schentke stellt nicht klar, wer letztendlich recht hat und was die objektive Wahrheit ist. Ihr gelingt es damit, die Komplexität der politischen Situation auf ihre Charaktere zu übertragen und so verständlich zu machen. Die Leser:innen werden ermutigt, sich selbst mit der Lage auseinanderzusetzen und sich zu fragen, ob es überhaupt eine objektive Wahrheit gibt oder ob Wahrheit in bestimmten Fällen nicht auch subjektiv sein kann.

Auch dass auf den relativ wenigen Seiten mehrere komplexe Themen angeschnitten werden, stört weder beim Verständnis noch beim Lesefluss. Dadurch wirkt der Roman nicht unübersichtlich, sondern realistisch. Das zentrale Thema ist zwar die politische Situation der Türkei, gleichzeitig behandelt er aber auch Rassismus, familiäre Probleme und die Suche nach der eigenen Identität.

Da der Roman sich hauptsächlich mit den Stärken, Schwächen und der Entwicklung der Figuren auseinandersetzt, ist die eigentliche Handlung eher gering, was aber keineswegs beim Lesen stört. Im Gegenteil, Schentkes einfache Sprache und die unprätentiöse Art, in der sie die Geschehnisse beschreibt, machen den Roman nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich zu einem Vergnügen.

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