Freiheit als Kontrollverlust

Christine, eine sorglose Mutter und unliebsame Ehefrau, ist die Protagonistin in Charlotte Roches neuem Roman. Ihr Nachwuchs bietet den eleganten Ausweg aus dem Berufsalltag. Die gewonnene Freizeit zerrinnt in wahllosen, hedonistischen Ablenkungen. Dann hält das schillernde Mädchen für Alles Einzug.

Von Eva Tanita Kraaz

Bild: Alicia A. L. via Flickr / CC BY-NC-ND 2.0 Format geändert

Freiheit als Kontrollverlust

Den Status als Skandalautorin kann Charlotte Roche auch mit ihrem neuen Roman verteidigen. In Mädchen für Alles setzt sie die Leiden einer gut situierten jungen Mutter in Szene. Christine Schneider konnte sich durch die Geburt ihrer Tochter den Ausweg aus ihrem stressigen Berufsleben ermöglichen. Das ist für sie der Auftakt, schlechte Angewohnheiten und Eigenheiten zu sammeln, als würde sie kulturkritische Feuilletonbeiträge ex negativo als Lifestyle-Tipps verstehen. Kapitelüberschriften, auf die Roche verzichtet, könnten »binge watching«, »shopaholism« oder »#regrettingmotherhood« lauten. Ungeniert konsumiert ihre Protagonistin Bier am Nachmittag und Kokain auf der Zugtoilette. Das sind die Ausbrüche aus einem Teufelskreis tumb machender Versuchungen. Der Sucht nach Fernsehserien folgt die fade Reue über verschwendete Stunden. Die wird gelindert durch die vermeintlich sinngebende Tätigkeit, Rezepte aus Foodblogs nachzubacken. Der bunt zusammengestellte Hedonismus sorgt dabei für Unterhaltsamkeit und Antipathie.

Im Präsens erzählt Christine ihren Alltag. Typischerweise beginnt der mit dem Erwachen aus dem Rausch der letzten Nacht. Manchmal im Ehebett, meistens auf der Couch. So beginnt sie, über die hausgemachten Dramen ihres Beziehungslebens zu sinnieren: Ihre Freundin Steffi musste sie abschießen, weil sie neidisch auf ihr Kind war. Ihr Ehemann ist wahrscheinlich schwul und zu ihrem Kind kann sie keine Verbindung aufbauen. Dass ihre Gedanken dabei in Lästertiraden, explizite Verführungsphantasien und lächerlich-paranoide Vendettavorstellungen abdriften, ist keine Seltenheit. Diese Tagträume befeuert sie mit den Geschichten, die sie täglich konsumiert: »Was man alles aus Serien lernen kann. Den perfekten Mord. Wie man jemanden verfolgt, fesselt, psychisch fertigmacht, eigentlich alles, was bei YouTube-Tutorials verboten wäre«. Natürlich bricht sich das angerissene Pathos der intrigenreichen Bildschirmwelt an ihrer öden Realität. Das hindert sie nicht daran, abenteuerliche Kausalitäten zu etablieren: Abgeklärt schreibt sie die Schuld an jeglichem Scheitern der Scheidung ihrer Eltern zu und überstürzt findet sie ihre vermeintliche Rettung im titelgebenden Mädchen für Alles, Marie. Selbstverständlich wirkt die Protagonistin albern, oder sogar naiv. Das ist nicht neu.

»Ich gebe mir einen Ruck, aber der Ruck ist nicht hart genug«

Die Konzeption des Romans um eine vermeintlich fragile und hochgradig unkonventionelle weibliche Ich-Erzählerin hat sich für Roche bewährt. Die 18-Jährige Helen Memel verteilt nicht nur Menstruationsblut im Krankenhausaufzug, vor allem verarbeitet die Protagonistin in Feuchtgebiete das Trauma eines Mord-Selbstmord-Versuchs ihrer Mutter. Elizabeth Kiel, die neurotische Protagonistin in Schoßgebete, lässt sich zwar zu gemeinsamen Bordellbesuchen mit ihrem Partner überreden, ihre geballten Komplexe trägt sie aber zu ihrer Therapeutin. Zusammen befassen sie sich mit der Verarbeitung eines Traumas, das sie nach einem tödlichen Autounfall in ihrer Familie erleidet. Die Vorgängerprotagonistinnen empfinden, so wie auch Chrissi, die Scheidung ihrer Eltern als einschneidende Erfahrung.

Auffällig ist dabei, wie diese Traumata diagnostiziert werden. Der Leserin wird einzig die Innensicht der Protagonistin gewährt, ohne auktoriale Referenz. So wird auch die Analyse der Psyche vorrangig durch die psychologisch ungeschulte Ich-Erzählerin selbst durchgeführt. Ein relativierender Rahmen, in dem über mögliche psychische Erkrankungen geurteilt wird, ist nicht vorhanden. Das Ergebnis ist eine unterkomplexe Pathologisierung. Ohne festen Anhaltspunkt behauptet Christine, manisch-depressiv zu sein, »Oder vielleicht bipolar? Oder nur bi? Haha Chrissi, du alter Psychoexperte, null Ahnung und nur rumlabern, ne?« Die abschließende Einsicht ist nicht vernunftgeleitet, sie zeugt lediglich von dem Mangel an Deutungshoheit über die eigene Person. Das unveränderte Schema könnte Gefahr laufen, zu langweilen. Verhindert wird das durch Roches autofiktionale Bezüge und ihre betont vulgäre Wortwahl.

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Charlotte Roche
Mädchen für Alles

Piper 14,99€

Bitte fragt mich, ob ich mein Kind auch vernachlässige!

Zentrale Angelpunkte des Plots setzen einen Bezug zur Lebenswelt der Autorin. Die Scheidung der Eltern und der tödliche Autounfall in der Familie sind Erlebnisse, die Roche mit ihren Protagonistinnen teilt. 80 Prozent von Feuchtgebiete, behauptete sie vor acht Jahren, seien autobiografisch. Auf Mädchen für Alles bezogen wirkt diese Tradition beinahe wie eine Herausforderung, nämlich zu fragen: Ist Charlotte Roche auch eine nachlässige Mutter? – Die grobe Provokation läuft ins Leere. Die Frage, ob es sich bei ihren Schundromanen um Literatur handelt, wird abermals aufgegriffen.

Joko und Klaas stellen sie in ihrer Unterhaltungsshow Circus HalliGalli. Im Ratequiz »Ist das noch Literatur« mit Joko und Putzfrau Sabine lesen Klaas und Roche abwechselnd Textabschnitte vor. Eine Hälfte ist Mädchen für Alles entnommen, die andere hat Klaas geschrieben. Joko und Sabine werden aufgefordert, den jeweiligen Texten ihrem/r Autor/in zuzuordnen. Die inszenierte Abfolge führt zum vorhersehbaren Urteil: »Keine Literatur« beziehungsweise »kann weg«. Der Auftritt der sonst toughen Roche ist leidenschaftslos. Verständlich, wenn zugunsten der abgedroschenen Debatte über Roches provokative Sprache das inhaltliche Diskussionspotenzial nicht genutzt wird.
Lustlos endet auch Mädchen für Alles: In einem platten Kunstgriff. Das mag enttäuschend sein, harmoniert aber mit der zermürbenden Lektüre. Dass einem der Spiegel vorgehalten wird, ist selten vergnüglich. Den geballten Narzissmus der affektierten, unangenehmen und selbstgerechten Protagonistin auch nur in Zügen als Realität zu erkennen, ist deshalb schwer zu ertragen. Roche versteht das Schreiben als therapeutische Reinigung von ihren negativen Empfindungen. Sie schafft dabei eine erbarmungslose, aber unterhaltsame Auflistung der Laster einer Generation.

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