Das Junge Theater Göttingen nimmt bei Juli Zehs »Corpus Delicti« zwar originelle Abwandlungen vor, teils wirkt die Inszenierung jedoch der Poetik des Romans unterlegen. Während einige schauspielerische Leistungen überragen, mutet die Thematik überholt an.
Von Lucie Mohme
Bilder: Dorothea Heise
Hier könnt ihr den Text als Audio-Aufnahme hören:
»Santé«, französisch für »Gesundheit«, prangt es in dreifacher Ausführung als grelle Leuchtreklame über der Bühne des Jungen Theaters Göttingen. Mit diesen Worten wird sich auf der Bühne begrüßt, verabschiedet und gepriesen. Denn in der dystopischen Gesellschaft in Juli Zehs Roman »Corpus Delicti« wird penibel auf die Hygiene geachtet, tägliche Sportrituale sowie Gesundheits-Checkups stehen auf der Tagesordnung. Abweichungen vom System sind unzulässig. Schadet man dem eigenen Körper, beispielsweise durch Vernachlässigung einer Routine oder durch schädliche Substanzen, hat das gerichtliche Konsequenzen. Das Bühnenbild von Kalma Streun kombiniert mit der still gespielten Anfangsszene, die aus Sportübungen mit Gymnastikball sowie Kniebeugen mit Poolnudel besteht, wirft eine:n zu Beginn der Romaninszenierung sofort in das dystopische Szenario.
Mia (Dorothea Röger) und Moritz Holl (Michael Johannes Mayer) sind die mehr oder weniger tragischen Träger:innen der Handlung. Besonders Mia durchlebt eine drastische Entwicklung im Stück. Zuerst hält sie, hin und hergerissen dazwischen, was richtig und falsch ist, vieles einfach nur aus, ist still und lässt sich überreden. Auslöser erster Zweifel ist, dass ihr Bruder Moritz verurteilt wird, da seine DNA-Spuren im Körper einer vergewaltigten Frau gefunden wurden. Moritz, generell Gegner des Systems, als Träumer beschrieben, fühlt sich der Natur verbunden und kann – besonders ungewöhnlich für einen Menschen in der Welt von »Corpus Delicti« – sich Gefühlen wie der Liebe hingeben. Entsprechend ist er auch schon dem System negativ aufgefallen. Zu Gefängnis verurteilt und auf seinen Prozess wartend, nimmt sich Moritz in seiner Zelle das Leben. Seine Schwester Mia, die mehr und mehr mit ihren Überzeugungen zu hadern beginnt, lässt sich vom eigenen Anwalt beeinflussen. Dieser verteidigt sie aufgrund des Gebrauchs toxischer Substanzen, in diesem Fall Rauchen, und überredet sie, Moritz‘ Unschuld zu beweisen.
Dramatische Geschmackssache
Weniger tragisch als in Zehs Roman ist die Rolle des Moritz Holl auf der Bühne, die durch kindliches, hyperaktives, gar affenartiges Herumspringen inszeniert wird. Dadurch entgleiten der Figur die Dramatik und Ernsthaftigkeit, die sie eigentlich haben sollte. Das Kostüm bestehend aus Unterhemd und Stoffhose kombiniert mit bunter Bommelmütze unterstreicht die fehlende Seriosität der Figur. Holl zeichnet sich in Zehs Roman durch eine tieftraurige Verzweiflung und melancholisch anmutende Poetik aus. Seine Kernthese »Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann« wirkt bei Mayer dahingesagt und ist weit aus bedeutungsvoller bei Röger, die die Worte in der Rolle der Schwester wiederholt. Röger teilt sich damit das Rampenlicht mit einer weiteren Figur der Inszenierung, die das Junge Theater geschickt in die Handlung einfädelt: Der als (Todes-)Engel gekleidete Erzähler, gespielt von Götz Lautenbach.
Leichtfüßig und mit opportunem Witz erzählt Götz mit bezeichnender Feinfühligkeit im Spiel zwischen den Szenen wichtige Details der Handlung und wirkt somit als auflockernde, aber auch aufklärende Instanz. Er kann die Zeit anhalten, die Figuren einfrieren oder ins Gewissen der Protagonistin reden sowie ihre innersten Gedanken offenbaren. Als Unglücksträger gesehen, ist es kaum ein Wunder, dass er stets an der Seite von Mia bleibt.
Infektiöse Gedanken
Mia, ähnlich wie es Moritz schon tat, entwickelt die Fähigkeit, Liebe zu fühlen und behauptet vor Gericht, sie sei frei von Furcht. Das Gericht wirft ihr infektiöse Gedanken vor, weshalb sie inhaftiert und isoliert bleiben soll. Dass sich gewisse, dem System gefährliche Gedanken rasend schnell wie eine höchstansteckende Krankheit verbreiten können, wird hier metaphorisch in die Gerichtsszene eingefädelt.
Die Thematik des Stücks kann einer:m im Aftermath der Corona-Pandemie durchaus leid sein. Über den ein oder anderen Gesundheitsfanatismus, wie das ausschließliche Trinken aus Zitronensaftkonzentrat-Flaschen oder das eifrige Sporttreiben ist an einigen Stellen noch zu lachen, aber das zwanghafte Desinfizieren der Hände wirkt mittlerweile reichlich überholt.
Zeh selbst kritisierte zu Zeiten des Corona-Lockdowns die Politik und sprach sich gegen eine Impfpflicht aus. Die Inszenierung geht darauf nicht ein – vielleicht, weil auch diese Konflikte inzwischen recht überholt scheinen. Doch ob das Werk hier unkritisch von seiner Autorin getrennt werden kann, die inhaltliche Aspekte ihrer Kunst in der Öffentlichkeit zum Thema machte, erscheint im Nachgang doch fraglich. Eine Anspielung auf diese Diskussion ins Stück einzubauen, wäre naheliegend gewesen.