Marcel Prousts À la recherche du temps perdu ist ein Monumentalwerk moderner Erinnerungsliteratur. Auf der Suche nach den verblassenden Reflexen der Vergangenheit koloriert der Erzähler die Dinge, Figuren und Begebenheiten seines Lebens in schillernden Farben. Wir begeben uns mit auf diese Suche.
Von Ingrid Ospald
Bild: Bill Strain via Flickr / CC BY 2.0 Format geändert
Wenn sich die Dinge ihre Farbe aussuchen
Wie ist Erinnerung möglich? Wie können wir die Farbe der Dinge bestimmen? Erinnerung bedeutet eben diese zu verorten, indem wir uns den Dingen zuwenden – und damit die zeitliche Distanz in einer Distanzierung (nach-)vollziehen. In einem glücklichen Moment zwischen Wachzustand und Tiefschlaf, also einem kurzen Intervall kann die Aura des zu betrachtenden Dings, Details oder modischen Utensils (siehe Swanns Eigenheit sich zu kleiden) wiedererlangt werden. In der Recherche kann dies gelingen, indem Proust seine Leser in einen Prozess hineinnimmt, einen Prozess, der im Text durch die beiden Instanzen des jungen und des alternden Marcel abgesteckt wird, und darüber hinaus immer schon einen Leser imaginiert, der bereit ist, die Suche mitzubeschreiten. Die Farbe der Dinge zu bestimmen bedeutet also in den Zirkel einzutreten, der die Suche nach der verlorenen Zeit, nach der Aura der Dinge beschreibt. Diese Suchbewegung lässt sich (vorläufig) als eine Geste beschreiben, die den Anfang vom Ende her denkt, indem sie den Anfang als die vollendete Reflexion auf sich selbst vorstellt und damit schon Ende ist:
Dabei geht es nicht um ein ursprüngliches Sprechen, also eine Sprachkritik (die nebenbei durchaus geübt wird), sondern vielmehr darum, die Dinge in ihrem Sosein, in ihrer Ursprünglichkeit wieder vorstellig zu machen. Es ist also die interessante Geste der Schleife, die sich immer wieder in neuen Formen der Suche (recherche) darbietet: in dem musikalischen Intervall der Sonate Vinteuils, in dem auratischen Genuss der Madeleine, getunkt in Lindenblütentee bei Tante Léonie, in der kleinen eigentümlichen Geste Swanns, seinen Spazierstock zu halten, der noch daran erinnert, dass er einst der großen Welt zugehörig war: Am Anfang steht ein Verlust, der die Dinge ihrer Aura beraubt hat – ihre Endlichkeit: die Geste setzt da an, wo sie aufhört, beim Verlust der Dinge qua ihrer Endlichkeit. Der Anfang beschreibt damit die vollendete Reflexion auf sich selbst und ist damit immer schon Resultat. In der Sprache des Anfangs gebiert der Erzähler aus seiner Rippe (oder Seite) die geliebte, geflüchtete Frau. Sie ist die Proust’sche Allegorie der Zeit; ihren Vorläufer hat sie in Gilberte, der ersten Liebe.
Dieses willkürliche Erinnern bereitet den Boden, auf dem die unwillkürliche Erinnerung ihren Anfang nimmt: Indem ich mich auf die Seite Swanns und die Suche begebe, kann ich die Ansicht der Dinge wahrnehmen, die sich in einer Offenbarung preisgeben. Wenn sich also die Dinge ihre Farbe aussuchen, dann sind sie uns nicht unmittelbar zugänglich und zeigen sich uns lediglich auf eine bestimmte Art und Weise, als Ansicht ihrer selbst also, die wir als geoffenbarte Ansicht wahrnehmen können. Der Idealismus geht so weit, dass die »eigentliche Realität die Struktur des Geistes hat«.1Otto Pöggeler (Hrsg.), Einführung in Hegels Phänomenologie des Geistes, Oldenbourg 2006, 121. Er bezeichnet die Erkenntnis, dass wir die Dinge in der Zeit nur in kleinen Bruchstücken wahrnehmen können (die Ansicht des Combrayer Turm) und diese zu einer Gesamtansicht in der Anschauung umwerten, als Querschnitt durch einen Wasserstrahl.
Dabei wird die erste Wahrnehmung von Combray zur Vorlage für weitere Wahrnehmungen bzw. die Überlagerung der Erinnerung des alternden Marcel über das Wissen und die Wahrnehmung des jungen Marcel. Hier werden bereits die beiden Perspektiven virulent, die teils ineinander geschachtelt erscheinen. So wie aus der Rippe (der Seite) seine Geliebte wiederersteht, so konstruiert er durch die Laterna magica (als künstlerisches Wahrnehmungsorgan) die Dinge, wie sie sich der Wahrnehmung darbieten. Aus der Seite oder von der Seite auf Swann selbst zu schauen (dies kommt einer Einführung des Lesers gleich) oder gar neben ihm herzugehen und ihn von der Seite her anzusehen, bedeutet für den Erzähler nicht zwangsläufig dieselbe Perspektive einzunehmen.
Man kann als Leser durchaus den Eindruck gewinnen, dass es zu einer Überkreuzung der Perspektiven kommt, dass der Erzähler entgegen der Erwartung eher die Perspektive der Guermantes und damit die gegenteilige Sicht (und Seite) einnimmt, indem er die Wertung der großen Welt gegenüber dem Abstieg Swanns übernimmt (oder zu übernehmen scheint). Dabei stellt der alternde Marcel sich selbst sowie dem jungen Marcel die Frage, ob der erlittene Verlust, den der junge Marcel erlebt hat, endgültig sei oder ob wir der Dinge habhaft werden können. Im Grunde lautet die Antwort wie folgt: Wir können der Dinge nicht wieder habhaft werden, aber wir können sie in und durch die Erinnerung verändern, sie uns annähern, wir beschreiben ohne sie je erreichen zu können. Es bleibt bei einer Beschreibung unserer Ansicht der Dinge. Der Idealismus Prousts bedeutet jedoch auch, dass die Dinge uns nicht zwingend zugewandt sind oder erscheinen, kurz: er bedeutet den Skeptizismus, dass wir nicht zu den Dingen durchdringen können.
Wie also ist Erinnerung möglich? Wie kann ich die Dinge in ihrer einmaligen Endlichkeit und Aura wiedererlangen? Sie ist willkürlich und unwillkürlich möglich: Die Unwillkürliche wird durch die Willkürliche vorbereitet und wahrnehmbar gemacht. Die eine empfängt das Was der Dinge, die andere das Wie. Das Wie ist quasi reine Möglichkeit. Es geht dem Erzähler darum, das Sein als reine Möglichkeit zu finden. Das Sein in seiner Möglichkeit zu finden. Einen Möglichkeitsraum zu eröffnen. Die Willkürliche ist die Suche, die Unwillkürliche ist die wiedergefundene Zeit. Dabei lässt sich feststellen, dass es die einfache Geste der Erinnerung als Schleife ist, die wiedergefunden wird und die die Aura der Dinge ausmacht. Der Clou wäre dann diese einfache Geste, die durch ihre Endlichkeit exponiert erscheint. Dabei klärt Proust nebenbei, dass die Dinge sich ihre Farbe aussuchen, dass wir sie zu Literatur machen und dass selbst die Konstruktion einer Person durch eine Überhöhung mittels Kunst noch weiter gesteigert werden kann, indem sie als Prozess einer Auratisierung unterliegt. Wichtig dabei ist, dass die Geste selbst zum Bezeichneten wird. Die Geste hat somit nicht selbst einen Inhalt, sondern wird zum Bezeichneten, also zu etwas, das eigentlich die Form einer Bedeutung in sich trägt. Ist es die objektive Zeit, die die Dinge ihrer ursprünglichen Form entkleidet oder die Erinnerung, die die Dinge in der Zeit nicht in derselben Weise wiedergibt?
Eine Antwort scheint er dem jungen Marcel schuldig zu bleiben, rät ihm jedoch auf die Schauspieler zu achten, die zunächst einmal imaginieren und dann ausführen bzw. handeln. Die Imagination steht also zeitlich an erster Stelle. Das Spiel der Schauspieler kann sich unter Umständen veralteter Ausdrucksweisen bedienen, sodass es anachronistisch erscheint. Ihm, dem Erzähler, geht es jedoch nicht nur um die Ausdrucksformen, nicht vordergründig um die hylae (Hülle), sondern vielmehr um den Kern. Die Haltung des Erzählers scheint dadurch charakterisiert zu sein, dass die Anachronismen helfen, die Dinge zu verstehen. Sie ermöglichen deren entautomatisierte Wahrnehmung. Angemessene Ausdrucksformen, also keine veralteten, sondern neue (raum-zeitliche) Formen empfiehlt der Erzähler: Molière statt Racine. Dabei lassen sich die beiden Seitenwege erneut darüber bestimmen, dass sie über die jeweilige Objektwelt als gesellschaftlicher Welt entscheiden, die Seite Swanns (Méséglise) und die Seite Guermantes bezeichnen. Combray bedeutet dann, dass die beiden Ansichten sowohl die ideale Ansicht als auch die ungleich materielle, die Abstraktion darstellen.
Dem Erzähler geht es dabei weniger um die Anschauung, obwohl es sich um ein architektonisches Artefakt handelt, stattdessen steht der Standpunkt im Vordergrund, der nur einen Ausschnitt sichtbar werden lässt und wie auf einer Postkarte eine Ansicht der Sache liefert, also die Ansicht von Seiten Swanns. Als Mit-Spaziergänger Swanns können wir und der Erzähler nicht in jedem Fall dessen Standpunkt einnehmen. Der Erzähler scheint vielmehr den Standpunkt der Gesellschaft, aus der Swann nun ausgeschlossen erscheint, auszufüllen. Dies drückt sich im Bedauern aus, dass er nicht mehr an den gesellschaftlichen Abenden der großen Welt aufgrund seiner Mésalliance teilnimmt. Da es ›du côté‹ heißt, ist eben nicht die Übernahme der Seite und Perspektive Swanns gemeint, sondern vielmehr die teilnehmende Beobachtung von einem anderen Standpunkt aus, der durch seine Nähe charakterisiert ist und eben nicht vordergründig die Seite im Sinne von Geliebte meint. Die bessere Wahrnehmung, die Beobachtung kann den Seitenweg als Seitenblick bemerkbar machen. Dabei geht es dem Erzähler jedoch um »Distanzen im geistigen Bereich«2Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2000 (übers. von Eva Rechel-Mertens), 181.. Damit kommentiert er die eigene Einschränkung. Auch wenn er sich der Wahrnehmung, der Distanznahme und der Anschauung im ›geistigen Bereich‹ bewusst ist, objektiviert er die Welt qua Vorstellungen. Indem er dies tut, kann sich auch die Kirche von Combray, durch ihren sichtbaren Teil von jedem anderen Bauwerk durch seinen Gedankengehalt unterscheiden. Damit schlägt sich Proust auf die Seite der Idealisten, die den Objektbereich und -bezug jenseits einer Erkennbarkeit im Sinne des Realismus ansiedeln. Es geht um Distanzen zwischen einer Vorstellung und der anderen. Am deutlichsten wird dies anhand des Erzählers. Dieser beobachtet sich selbst in der Zeit. Das bedeutet mit Fichte gesprochen, dass ich eine Vorstellung von mir als vorgestelltem Ich (erinnerndem Ich) habe und dass das erinnerte Ich eine Vorstellung (also Objektivierung) des vorgestellten Ichs ist.
Möglicherweise, so Proust, befreie ich die Dinge von ihrer Konformität dadurch, dass ich ihnen einen Gedankengehalt attestiere. Indem ich an sie denke und nicht als das Andere imaginiere, sondern sie in ihrem Gehalt für mich wahrnehme. Ein Teil genügt, da wir das Übrige imaginieren und zwar auf eine ähnliche Weise wie den Teil selbst. Es geht ihm darum, die Zeit zu finden, ihr zu entfliehen, indem er (und wir) sie bewusst aufsucht. In einem unbewussten Moment jedoch kehrt sie wieder. Die Madeleine ist möglicherweise der Umweg, den er geht und bereits vorgestellt hat. Er nimmt in Combray bereits durch die Wortwahl die Ereignisse um Swann und Marcel vorweg, indem er die beiden Perspektiven ineinander schachtelt: es ist die Perspektive des sterbenden Marcel, der dem jungen Marcel die Dinge erklären will. Das hat sich bereits angekündigt, sagt der sterbende Marcel: das Zukünftige ist bereits in der Vergangenheit bzw. Gegenwart angelegt. Man muss nur den richtigen Blick dafür haben, vielleicht muss man einen speziellen Standpunkt einnehmen, der die Sicht auf diese Dinge erlaubt. Der philosophische Standpunkt ermöglicht, die Dinge auf abstrakte Weise zu sehen. Denn indem ich mir dessen bewusst bin, sagt Proust, dass die Dinge unabhängig von mir existieren, kann ich eine ganz andere Haltung zu ihnen einnehmen, als wenn ich sie für mir unmittelbar zugänglich annehme. Dabei spielt eine an Molière gemahnende Tragikomik eine Rolle, da sich der Erzähler über das Spekulative seines Standpunkts bewusst ist. Möglich wäre auch, dass Proust sich hier tarnt: Er erklärt zunächst die Dinge mit Personen und dann die Personen durch die Dinge, indem er ein »ungewisses Bild zu einer wirklichen Person umschaffen«3Ebd., 190. will. Diese Umkehrung soll zeigen, dass und wie starr unser Denken beschaffen ist. Er überspitzt es, um die Wahrheit zu sagen. Diese Wahrheit besteht darin, dass nur, indem ich das Gegenteil annehme, ich den Dingen und ihrer Aura näher komme. Indem ich das Gegenteil annehme, befreie ich das Ding von seiner Geschlossenheit. Die Geschlossenheit eines Dinges ist seine Unzugänglichkeit.
Warum kommen wir den Dingen näher, wenn wir ihr Gegenteil, ihre Negation annehmen? Wenn wir annehmen, dass die Dinge ein Eigenleben führen, dann negieren wir unsere Intuition. Die Wahrnehmung, dass die Dinge ein Nicht-Ich sind, ist entscheidend, sodass alles außer mir anders thematisiert wird als das Ich. Selbst bei der Wahrnehmung durch die Laterna Magica handelt es sich weniger um Objektwahrnehmungen als vielmehr um Selbstobjektivierungen, ein Sich-Erkennen in und durch die Dinge. Die Dinge zu objektivieren sind wir gewohnt, aber uns selbst zu erkennen ist ein davon unterschiedener Vorgang; so nähert sich der erinnerte Erzähler den Dingen über die Laterna Magica. Der Erzähler sagt, dass er die Dinge besser kenne als die Menschen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass er sie – wie im Falle der Laterna Magica – durch die Kunst überhöht. Mit ihr setzt sich die durch die Seite geborene Imagination der Frau fort im Sinne eines unendlichen und umfassenden Prozesses der Imagination. Es geht hier darum, was Imaginationen triggert. Inwiefern sie sich gegenseitig überhöhen. Das Selbst wird durch diese Imaginationen zum Selbst, so wie die Dinge erst durch ein Selbst zu den Dingen in unserem Sinne werden.
Dabei ist zu unterscheiden zwischen den erinnerten Imaginationen des jungen und den Imaginationen des alten Marcel. Es kommt zu einer Interferenz, indem die Imaginationen des jungen Marcel durch die Erinnerung des alten Marcel überlagert werden und so die besondere Zirkelstruktur der Selbstobjektivierung triggern. Diese Imaginationen sind anders gelagert als die Überhöhungen durch Literatur, die für die übrigen Figuren gelten. So überhöht beispielsweise Swann Odette mit den Fresken verschiedener Künstler wie z.B. Botticelli. Interessant dabei ist, dass die Einbildungen der realen Landschaft (Combray) genauso real sind wie die Einbildungen imaginierter Landschaften (etwa aus Büchern). Dabei kann nochmals unterschieden werden zwischen Einbildungen als eher unbewussten Konstruktionen und Einbildungen als intendierten Konstruktionen im Sinne der Überhöhung einer Person (Figur) durch die Kunst, wie es beispielsweise Swann mit Odette tut (Überhöhung durch Botticelli).
Es sind die unscheinbaren Dinge des Lebens, durch die das Triggern ermöglicht wird. Dies geschieht nicht ohne eine gewisse Komik oder genauer: Tragikomik. Davon sind beispielsweise auch nicht die Axiome frei, die der Erzähler aufstellt: »Seelenregungen entstehen nicht im selben Augenblick nach einer im Voraus bestimmten Ordnung.«4Ebd., 208. Die Seelenregungen unterwerfen sich keiner kausalen Ordnung, der Zufall regiert sie oder ermöglicht ihnen eine assoziative Freiheit. Sie treten nicht zeitgleich mit den Seelenregungen der Anderen auf. Die Frage nach der Kausalität wird aufgeworfen. Was triggert? Gibt es Grade der Kontingenz? Wir stellen nicht nur eine Kausalkette her, sondern wir machen buchstäblich aus den Dingen, was wir wollen. Wir imaginieren Dinge, indem wir die Vorstellungen mit Gehalt, sprich mit Gedanken füllen. Wir verändern die Vorstellungen durch unsere Gedanken. Wenn ich an ein Ding denke, habe ich bereits eine Vorstellung von ihm und wähle quasi aus den verschiedenen Ansichten des Dinges eine aus – die, an die ich denke. Ähnlich verhält es sich mit den Ansichten (und dem Standpunkt) von Combrays Turm. Denn diese existieren nur in unseren Vorstellungen. Unser Denken sei starr oder statisch, sagt Proust. Unser Denken ist statisch, weil wir keine Möglichkeit haben, die Perspektive zu wechseln.
Sind die Dinge also abhängig davon, wo ich stehe und das buchstäblich? Vielleicht sind die Vorstellungen ja nicht statisch. Vielleicht werden die Gegenstände doch durch uns gedacht. Durch uns, nicht von uns. Vielleicht erhalten die Dinge erst durch uns ihre Festigkeit? Das wäre dann ebenso melancholisch formuliert wie bei Proust. Vielleicht sind sie nicht fest und wir imaginieren sie aber in dieser Weise, weil wir das Bedürfnis haben, Dinge als Werkzeuge zu verwenden und zu entwerfen. Siehe das Innerlichste als ständig bewegter Hebel:
Das Innerlichste ist und bleibt Spekulation. Die Selbstobjektivierung ist genauso irreal wie die Anderen oder die Dinge. An erster Stelle steht die Konstruktion der Dinge, dann die der Anderen (Menschen), dann das Selbst als literarische Entdeckung. Hier schließt sich die schwierige Unterscheidung zwischen beobachtendem Ich und beobachtetem Ich an. Indem er sich selbst zum Objekt macht, kann die Bewegung wieder an den Anfang zurückgeführt werden: Er selbst ist das Kunstwerk. Und beschreitet dadurch den Zirkel von beobachtendem Ich und beobachtetem Ich. Wenn schon eine Version seiner selbst, dann eine Literarische, die dieselbe Aura wie am ersten Tag verinnerlicht hat.
Die Konklusion aus dem bisher Gesagten besteht in der Wiedergewinnung der Aura. Die Teeszene der unwillkürlichen Erinnerung zeugt hiervon. Sie ist der Clou des Ganzen und der Ganzheitsvorstellung. Die Aura des Tees und der Madeleine führt zu einer Wiedergewinnung der Aura aller anderen Dinge. Die Aura des einen Dings im Hier und Jetzt führt dazu, dass eine ganze Serie an Erinnerung zusammen mit dem auratischen Charakter der Dinge lebendig erinnert wird. Am Ende und am Anfang steht die Kreisbewegung.
Diese wächst sich zu der zu Anfang skizzierten Bewegung aus. Die Form der Erinnerung wird dabei durch die Setzung des Ich als Linienziehen im Sinne Fichtes imaginiert, sodass die Kreisbewegung bzw. Schleife als philosophische Abstraktion zu verstehen ist:
Sie ist die letztgültige Konklusion aus der Rippe, aus der Seite des Erzählers und damit auch aus der willkürlichen Erinnerung. Es sind die wenigen, einmaligen Momente, die ihn die Aura wiederempfinden lassen. Die Suchbewegung auf dieses Detail hin charakterisiert die Recherche. Kann so also das Selbst als flüchtiges Objekt in der Zeit habhaft gemacht werden?
Ich bin Literatur! Ich bin lesbar!7Vgl.etwa Foucault und das Subjekt als Kunstwerk in: Ästhetik der Existenz, Suhrkamp Frankfurt a. M. 2007.
Da – so präludieren wir – wir es sind, die den Dingen eine Farbe verleihen, die Dinge jedoch unter gewissen Bedingungen eine andere Gestalt haben, als wir es annehmen, gebiert Proust die Möglichkeit, dass wir aus den Dingen machen können, was wir wollen. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist, dass wir den Dingen die für uns geltende Farbe verleihen, sie also bewusst imaginieren, sodass von ihnen im Grunde nur mehr als Konstruktionen gesprochen werden kann. Aus diesem Grunde äußert am Beginn der Recherche der Erzähler den Satz: Ich bin »eine Kirche, ein Quartett«!8Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2000, (übers. von Eva Rechel-Mertens), 9. Er objektiviert sich zu einem Artefakt. Er selbst ist nun das, was er liest. Ich bin ein ›Ding‹ und weil sich die Dinge ihre Farbe aussuchen, haben sie unter Umständen auch mich gewählt, wäre eine mögliche Schlussfolgerung. Daraus folgt ebenso die Konstruktion der Personen, ihre Überhöhung durch die Kunst, ihre Auratisierung. Die logische Struktur sieht zunächst so aus, dass der alternde Marcel sie damit begründet, dass »[s]eine Vernunft […] kaum Anstoß an ihr [nahm].«9Ebd., 9. Dies kann der Dämmerzustand ermöglichen, da unser Denken starr ist und wir daher die Dinge immer in ein und derselben Weise wahrnehmen. Im Anschluss daran, stellt er die These auf, dass wir aus den Dingen machen können, was wir wollen. Die Konklusion daraus, dass wir das können oder müssen, ist, dass die Dinge unabhängig von uns Farbe bekennen im Sinne von die (kontigente) Ordnung der Farben anzuerkennen.
Wenn wir mit Proust diesen Schritt vollziehen, dann ist uns die gesamte Objektwelt unzugänglich und wir konstruieren permanent Farbe und Gestalt der Dinge nach einem bestimmten Schema oder eben doch willkürlich. Anhand des Geranienrots etwa: Bei der Farbe ›Geranienrot‹ offenbart sich eine gewisse Entfremdung der Dinge dem sprechenden Ich gegenüber. Das Geranienrot ist die Farbe von Madame de Guermantes. Dabei gleichzeitige erneute Wiederholung der Überhöhung durch Assoziationen aus dem Kunstbereich – Stellen im Lohengrin und Bilder Carpaccios, sowie Baudelaire10Ebd., 237., quasi ein Blumenstrauß aus Assoziationen aus dem Kunstbereich.
Einem Palimpsest gleich legt sich die Vorstellung von Martinville über die Vorstellung des Kirchturms von Combray. Daneben wird wieder die Frage nach der Zugänglichkeit der Dinge gestellt, diesmal in anderer Form. Wie ist es um den Gedankengehalt von Gebäuden bestellt? Wie können wir zu ihnen durchdringen? Vielleicht waren wir zu voreilig anzunehmen, dass wir den Dingen die Aura verleihen bzw. die Dinge sich selbst ihr Sein, ihre Farbe aussuchen. Dies ist keine unmittelbare Konklusion daraus, dass die Dinge sich ihre Farbe aussuchen. Das ist eine davon zu unterscheidende Annahme. Dennoch ist es möglich, diese als hinreichende Bestimmung zu konstruieren. Denn, weil sie uns in ihrem Sein nicht unmittelbar zugänglich sind, wir jedoch gezwungen sind oder die Freiheit haben, die Farbe zu bestimmen im Sinne von sie handhabbar also zweckmäßig zu gestalten, können wir ihr Sein wählen. Es ist Freiheit, die sich da kund tut. Die Freiheit zu bestimmen, wie die Farbe der Dinge aussieht. Das wahrnehmende Subjekt trifft die Entscheidung, sich auf die eigene Imagination (Konstruktion) zu verlassen und sich zu dieser zu bekennen. Es ist zu unterscheiden zwischen der realen Vorstellung und der Überhöhung durch Imaginationen, die sich über die reale Vorstellung legen. So baut er das Zimmer von einst in Combray über bewusste Imaginationen in der Sterbestunde und im Sterbezimmer auf. Er imaginiert sich im Kinderzimmer von Combray, baut dies Stück für Stück in eigener imaginativer Regiearbeit auf. Der Lichtschein wird zum Mal, einem Gezeichnet-Sein von der Grelle des Lichtes der Erinnerung, die die Düsternis der Gegenwart überflutet. Die Vorhänge sind zugezogen und es zeichnet sich – wie bei der Laterna Magica – ein buntes Muster durch den Lichtstreifen ab. Damit schließt der Erzähler den ersten, willkürlichen Teil der Erinnerung ab, dessen Wahrheit eine andere und zugleich jene des Endes ist.
Dabei fungiert die ›Flucht vor dem Leben‹ insbesondere für Marcel, jedoch in einer Hinsicht auch für Swann, als Axiom, das allem anderen vorausgeht: Er flieht, vielleicht nicht willentlich oder wissentlich, aber er flieht. Dies soll aus Erzählersicht klären, wie es zu dem Ist-Zustand gekommen ist. Er hat den Wunsch, dies den jungen Marcel wissen zu lassen. Er spricht von dem Eintritt in die Kultur, der über Liebesbeziehungen definiert ist und daher eine umgreifende Veränderung für die betreffende Person mit sich bringt. Dies ist entscheidend, da der Eintritt in die kulturelle Sphäre unsere ästhetische Wahrnehmung codiert und damit alle weiteren Wahrnehmungen und Imaginationen (auch der unmittelbaren Vergangenheit) sowie unsere Emotionen steuert. Er sagt, dass wir diesen Imaginationen so sehr verhaftet sind, dass uns die Realität im Vergleich damit viel unwahrscheinlicher vorkommt. Die Realität ist genauso unwirklich wie eine Erzählung.12Vgl. ebd., 228. Daher ist der Satz logisch völlig korrekt: Ich bin lesbar, ich bin ein Sonett.
Warum sich die Dinge ihre Farbe aussuchen
Die formulierte skeptizistische Position besagt, dass Objekterkenntnis nicht möglich ist und somit eine Umwertung, eine pointierte (überspitzte) Position darin besteht zu attestieren, dass die Dinge ein von uns unterschiedenes Eigenleben führen oder auch, dass sich die Dinge ihre Farbe aussuchen. Es ist unsere Freiheit, den Personen Eigenschaften der Kunst zuzuschreiben (wie dies so ausgiebig in der Recherche geschieht), ebenso wie der Erzähler dies bei sich selbst tut. Er wird selbst zu Literatur, indem er sagt: »ich bin […] ein Quartett«13Vgl. ebd., 5.. Dies ist möglich, weil der Imagination alles möglich ist. Wir können, um bei Proust zu bleiben, die Dinge so imaginieren, dass sie sich ihre Farbe im Gegensatz zu der Farbe, die wir ihnen geben, aussuchen, da es keine Überschneidungen zwischen unserer Erkenntnis und dem Sein der Dinge gibt. Deshalb ist Albertine unerreichbar. Deshalb ist die Zeit zeitlos. Zumindest für uns. So zeitlos wie die Suche nach der verlorenen Zeit.