Ronja von Rönnes Debutroman Wir kommen beschreibt den Weg ihrer Protagonistin Nora aus dem geruhsamen Kleinstadtleben in eine Gegenwart mit polyamorer Beziehung und Panikattacken. In Form eines Therapietagebuchs reflektiert sie zynisch Jugend und Erwachsenenleben.
Von Eva Tanita Kraaz
Bild: Public Domain CC0
Der samstägliche Einkauf im Kaufland ist der Höhepunkt der Woche, das Schweigen im Einfamilienhaus die Erfüllung. Die Jugend in der spießbürgerlichen Vorstadt eignet sich ideal als Kontrastfolie für den Lebensentwurf der Mitzwanzigerin Nora. Großstadt: Check! Polyamorie: Check! Mieser Job und psychische Labilität: Doppelcheck! Die Lebensführung, die Ronja von Rönne in ihrem Debutroman Wir kommen vorstellt, ist arg konstruiert und zuweilen zynisch. Der Clou ist, dass die Protagonistin und Ich-Erzählerin, Nora, sich dessen bewusst ist. So gelingt ihr die Scheinrettung aus der Vorstadtlangeweile in das Großstadt-Ennui.
Glück und Wahn
»Wir waren glücklich und glaubten uns das«, schreibt Nora in ihr Therapietagebuch. Mit dem Zweck, ihre Panikattacken zu dokumentieren, bildet es den Erzählanlass des Romans. Das »Wir« bezieht sich auf die Viererkonstellation ihrer Beziehung. Sie setzt sich zusammen aus betont zwiespältigen Charakteren. Karl ist der Sohn eines Soziologen, der unterkomplexe Plattitüden in seinem Ratgeber fürs Glücklichsein zum Besten gibt. Dass er selbst eher nicht so glücklich ist – geschenkt. Jonas straft Nora mit Schweigen ab, weil sie die Drohung, ihre Matratze zu verbrennen, nicht wahrmacht. Der alberne Trotz bremst seinen Kinderwunsch nicht. Leonie verdient ihren Lebensunterhalt mit Ernährungsberatung, obwohl sie offensichtlich selbst unter einer Essstörung leidet. In Anbetracht ihrer egozentrischen Partner ist es wenig verwunderlich, dass Nora lediglich ihre Panikattacken als zuverlässige Begleiter beschreibt. Die Panik ist diejenige, die »zutraulich neben ihr im Bett« liegt und sie »treu um fünf Uhr morgens« weckt.
Fast obligatorisch ist, dass junge Protagonisten gegen das polemisieren, was ihnen scheinheilig, unauthentisch oder peinlich erscheint. Halbherzig polemisiert auch Nora. Ihr beinahe erwachsener Pragmatismus trübt ihr scharfes Urteil. »Amerikanischer Smalltalk« sei schon scheinheilig, sie gibt aber zu: »abkanzeln geht schnell, und dann steht man stumm voreinander und saugt an seinem Strohhälmchen.« Bei ihrer Einsicht in die eigenen albernen, selbstinszenatorischen Bemühungen, schlägt dieser Pragmatismus in eine, wie sie es nennt, »neurotische Hyperreflexion« um. Ihre Liebesbeziehung konstruiert sie zum Film noir. Streit im Fast-Food-Lokal – ein Fauxpas: »Einmal stritten wir uns in einem McDonald’s, aber dann sagte Jonas, wie scheiße das aussehe, also lief er wütend nach draußen, und wir stritten uns im Licht von Straßenlaternen weiter.« Der notorischen Selbstanalyse gibt Nora einen blinden Fleck. Sie weigert sich an den Tod ihrer Schulfreundin Maja zu glauben.
Eine perfide Zermürbungstaktik
In den besten Teilen ihres Debuts bringt Ronja von Rönne solche klugen Konstellationen in eine bestechende Form. In den weniger guten Teilen langweilen die immer gleichen stilistischen Eigenheiten. Dass Nora in ihrer Wahrnehmung Objekten denselben Missmut unterstellt wie ihren Figuren, ermöglicht beispielsweise eine gelungene Beschreibung der sommerlichen Ödnis: »Ein schöner Tag, schlapp lagen die Felder herum, und Windräder drehten träge ihre sisyphosschen Runde« Die stets identisch konzipierten Aufzählungen, in denen sich Noras innere Zerrissenheit zeigt, wirken allerdings eher wie eine perfide Zermürbungstaktik der Autorin. In Anaphern betet die Protagonistin scheinbar endlose Listen herunter, deren einziger Reiz die Abwechslung von Banalem mit Existenziellem ist: »Vielleicht sollte ich Mathematik studieren. Vielleicht sollte ich Eisenpräparate zu mir nehmen. Vielleicht sollte ich mich für Obdachlose engagieren.«
Ronja von Rönne
Wir kommen
Aufbau Verlag 2016
208 Seiten, 18,95€
Ihre Mutter, so beteuert Rönne in diversen Fernsehauftritten, habe sie nach der Lektüre ihres Debuts gefragt, ob sie schwer depressiv sei. Daran, dass Rönne diesen Satz ähnlich repetitiv aufsagt, als handle es sich um einen Vers, der bis zur nächsten Deutschstunde auswendig gelernt sein will, wird ihre aktive Selbstinszenierung deutlich. Offensichtlich hat sie die nötig. Nach ihrem antifeministischen Artikel in DIE WELT wurde sie zum enfant terrible stilisiert. Mittlerweile will sie diese Positionierung als unabsichtlich verstanden wissen. Besagter Artikel habe nur so großes Aufsehen erregen können, begründet sie kokett, weil er »einfach wahnsinnig gut geschrieben« sei. Die kontroversen Reaktionen habe sie nicht vorhersehen können, denn bis zum fraglichen Zeitpunkt habe sie nur für eine sehr eingeschränkte und spezielle Zielgruppe gebloggt.
Noras selbstlose Projektionsfläche
Ronja von Rönne relativiert, scherzt und analysiert sich bis auf die Knochen. Wer ihrer vermeintlichen Blauäugigkeit Glauben schenkt, dem mag ein Begriff aus ihrer fiktionalen Welt in den Sinn kommen: Die »neurotische Hyperreflexion«. Im Zusammenspiel mit den ungenierten Ausführungen Rönnes zu ihren eigenen Panikattacken wirkt Nora bald wie eine autobiographisch angelegte Figur. Rönne geht so weit zu sagen, dass ihre Person als eine Art »Projektionsfläche« für ihr Schreiben verstanden werden darf: Die provokative Einladung zum autofiktionalen Verwirrspiel.
Wir kommen offenbart die Dekadenz der überprivilegierten Orientierungslosigkeit und notorischen Selbstinszenierung. Vor der Einsicht, dass ihre Schulfreundin gestorben ist, verschließt sie sich im selben Maße wie vor der Aufarbeitung gravierender Jugenderlebnisse. Nora zieht sich lieber aufopfernd in eine lieblose Beziehung zurück, in der sie ihre Panikattacken zum Gipfel ihres Ennuis degradiert. Wer sich so intellektuell gibt wie Nora, legt Rönne aber nahe, muss auch so intelligent sein, seine eigene Inszenierung zu durchschauen. Nora weiß, dass ihr Lebensstil nur die coole Verkleidung ihres Kleinbürgergemüts ist. Flapsig lässt sie zuweilen die Aporie der Spießigkeit zu und bekennt sich; man brauche »keine Freunde zum Pferde stehlen, man braucht Freunde zum Doppelkopfspielen.«