Abgekoppelt und erfinderisch

Ein Bericht zur Tagung Literatur im skandinavischen Exil, 1933 bis heute

Tagungsbericht von Daniel Nagelstutz

Bild: Via Pixabay / CCO

Die Göttinger Nachwuchstagung Literatur im skandinavischen Exil, 1933 bis heute, organisiert von den Doktorandinnen Leonie Krutzinna vom Skandinavischen Seminar der Universität Göttingen und Judith Wassiltschenko, tätig an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle des Seminars für Deutsche Philologie Göttingen, fand am 23. und 24. September 2016 in den Tagungsräumen der alten Universitätsbibliothek statt. Die Tagung widmete sich der Exilliteratur Dänemarks, Norwegens und Schwedens während der NS-Diktatur und den Prozessen des Kulturtransfers infolge der Migrationsbewegungen seit 1933. Finanziell unterstützt wurde sie vom Skandinavischen Seminar, der Abteilung Komparatistik des Seminars für Deutsche Philologie und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG).

Das Anliegen der Organisatorinnen und Vortragenden war es, neue Theorien und Methoden anzusetzen, um an die letzte Hochphase der Exilforschung in den 1970er-Jahren anzuknüpfen und dabei den engen Exilbegriff zu erweitern. Moderiert wurden die thematisch zusammengefassten Panels von den Veranstalterinnen sowie Friederike Schruhl vom Graduiertenkolleg Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung und Niels Penke vom Seminar für Germanistik der Universität Siegen.

Sprachexperimente

Zu denen, die ihr literarisches Schaffen einer sprachlichen Innovation verschrieben, sind Werner Lansburgh und Kurt Schwitters zu zählen, die durch ihre Lebensumstände gezwungen waren, sich ihre Exilsprache anzueignen. Ersterem widmete sich Anne Benteler, tätig an der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Hamburg. Sie legte den Fokus auf die sprachlichen Experimente Lansburghs. Lansburgh thematisiert in seinem im Exil entstandenen Werk die Abspaltung vom »lebendigen Fluss der deutschen Muttersprache«. Anhand seines Briefromans Dear Doosie erörterte Benteler, wie die Exilsituation die literarische Sprache des Autors beeinflusste. Dear Doosie weist eine experimentelle Mehrsprachigkeit auf, indem die Erzählinstanzen zwischen Deutsch, Englisch und Schwedisch wechseln. Ein weiteres literarisches Verfahren des Autors besteht zudem im übersetzenden Erzählen. Lansburgh sah sich mitnichten in der Rolle des konservativen Sprachbewahrers. Stattdessen erzeugte er eine Sprachästhetik mit der Konsequenz, weder als schwedischer noch als deutscher Autor zu Lebzeiten Anerkennung gefunden zu haben. Lansburgh kehrte erst 1977 nach Deutschland zurück, wo er aufgrund seiner Unbekanntheit keinen Verleger fand. Trotz seines produktiven literarischen Schaffens in Schweden blieben zahlreiche seiner Texte unveröffentlicht. In Deutschland, so Benteler, sei Lansburgh beinahe unerforscht.

Wie für Lansburgh spielt auch für Kurt Schwitters die Sprachlosigkeit im Exil eine Rolle für seine literarische Produktion. Noch bevor er der Sprache seiner Exilheimat mächtig wurde, entschied er sich dafür, sie auch für seine Texte nutzbar zu machen. In diesen Texten zu Beginn des Exils spiegelt sich die auditive Adaption des Norwegischen wider. Norwegische Vokabeln sammelte der Autor, um sie als lautliches Material wiederzuverwenden. Den Erwerbungsprozess des Norwegischen zeigte Leonie Krutzinna in einem Gedicht von Schwitters. Sie stellte zudem die Wirkungsgeschichte von Schwitters’ Schaffen in Norwegen vor und veranschaulichte diese anhand einer kurzen Vorstellung der 2012 im Osloer Verlag No Comprendo Press erschienenen Graphic Novel zu Kurt Schwitters von Lars Fiske. Obwohl Schwittersʻ in Deutschland entstandenes Werk gut erforscht sei, merkte die Referentin an, gebe es in Hinsicht auf seine im Exil entstandene Dichtung noch Forschungslücken. Gleiches gilt für Lansburgh: Die wechselnden Diktionen seiner Protagonisten entsprachen nicht den Lesegewohnheiten des deutschsprachigen Publikums. Lansburghs Werk geriet in Vergessenheit.

Kampf um die Publikation

Neben der Betrachtung einzelner AutorInnen nahmen Prof. Dr. Julia Benner, u.a. forschend im Bereich der Kinder- und Jugendmedien an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Judith Wassiltschenko auch ein Genre in den Blick, die Kinder- und Jugendliteratur. Diese sei, so betonten die Referentinnen, ein marginalisiertes Genre unter den Exilliteraturen. Benner beschäftigte sich in ihrem Beitrag mit der Kinderbuchreihe Mimff von Hildegard Johanna Kaeser, die, heute weitestgehend unbekannt, zeitweise zu den produktivsten Schriftstellerinnen Schwedens gehörte. In alle vier Bände der betreffenden Reihe könne ein Exilbezug hineingelesen werden, wenn man das Entstehungsdatum der Bücher und die Exilsituation der Autorin in die Betrachtung einbezieht. Benner rückte in ihrem Beitrag den dritten Band Mimff Takes Over in den Fokus, der einige interessante Fragen aufwirft. Der 1954 veröffentlichte Band handelt von einem Jungen, der vor den gesellschaftlichen Umbrüchen im kommunistischen Ungarn nach England flieht. Dabei erwähnte Benner, dass Kaeser wohl kaum über Informationen zur politischen Lage des osteuropäischen Landes verfügt haben dürfte, drangen doch immerhin fast keine Informationen aus dem abgeschotteten Land nach außen. Auffallend sind zudem auf inhaltlicher Ebene zahlreiche Ellipsen. Unklar ist, ob Oxford University Press, der einzige Verlag, der das Buch publizierte, die Autorin zu Streichungen veranlasste oder ob schlichtweg Wissenslücken für die unvollständige Kohärenz auf inhaltlicher Ebene die Ursache waren. In Deutschland wurde Mimff Takes Over nicht veröffentlicht. Benner vermutet, dass ein Kinderbuch, das von Verfolgung, Krieg und Terror handelt, keinen Platz in der idyllischen Kinderbuchlandschaft der jungen Bundesrepublik gefunden hätte.

Auf ähnliche Widerstände stieß Lisa Tetzner, die im Schweizer Exil die Kinderbuchreihe Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67. Odyssee einer Jugend in neun Bänden schrieb. Am Beispiel von Tetzners Schweizer Verlag Sauerländer wird deutlich, wie sehr AutorInnen im Exil zu Kompromissen und Konzessionen in ihrem künstlerischen Schaffen genötigt wurden. Da in ihrer Kinderbuchreihe der Nationalsozialismus zwar aus kindlicher Perspektive aber dennoch sehr explizit beschrieben wird, fürchtete der Sauerländer Verlag politische Konsequenzen mit Hitler-Deutschland. Im Gegensatz zu Kaeser – in deren Fall eine vom Verlag angeordnete Zensur reine Spekulation ist – wurde Tetzner von ihrem Verlag und der Zensurstelle des Schweizer Armeekommandos zu Streichungen und Umschreibungen gedrängt. Im Exil nahm Tetzner Kontakt mit dem schwedischen Verleger Axel Holmström auf, der bereits vor 1933 ein Buch von ihr veröffentlicht hatte. Holmström ermutigte Tetzner, die Kinderodyssee weiterzuführen und veröffentlichte einige der Bände noch bevor sie auf Deutsch erschienen, ohne die explizit politischen und kritischen Textstellen zu tilgen oder sprachlich abzuschwächen. Nur auf diese Weise konnte Tetzners Reihe in der richtigen chronologischen Abfolge und fast simultan mit den darin beschriebenen historischen Ereignissen erscheinen, wodurch sie in der Rezeption ihre bis heute betonte Stärke entwickelte.

Späte Anerkennung oder keine

Zu den AutorInnen, deren Möglichkeit zur Publikation ebenfalls nur außerhalb der Exilheimat zu finden war, zählt auch Maria Lazar. Wie bereits Bertolt Brecht und Helene Weigl folgte Lazar 1933 einer Einladung der dänischen Schriftstellerin Karin Michaëlis nach Thurø in Dänemark. Obwohl Lazar im Gegensatz zu anderen ExilliteratInnen über ein scheinbar ideales literarisches Netzwerk verfügte, fand sie in Dänemark keinen Verleger für ihren Roman Leben Verboten. Dieser erschien 1934 im britischen Wishart Verlag unter dem Titel No Right to Live, ein Kapitel ihres Romans Die Eingeborenen von Maria Blut veröffentlichte sie im Jahr 1937 in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort. Simone Ketterl, Mitarbeiterin am Institut für Germanistik an der Universität Leipzig, weitete mit ihren Ausführungen zum internationalen Exilnetzwerk und den oftmals nötigen Umwegen der Publikationen wie auch einige andere BeiträgerInnen also die geographische Perspektive der Tagung. Darüber hinaus erinnerte sie auch an Lazars doppelte Marginalisierung als Exilautorin in der früheren Forschung, als Jüdin und als Frau wurde ihr publizistisch und wissenschaftlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die Eingeborenen von Maria Blut wurde 1958 in der DDR und erst 2015 in Österreich veröffentlicht.

Wie in diesen Beispielen schon anklang, herrschte Einigkeit unter den Vortragenden über das Hinausreichen des Begriffes »Exilliteratur« über das Jahr 1945, anders noch als dies frühere ForscherInnen postulierten. Etliche AutorInnen verblieben nach Kriegsende in ihrer Exilheimat, andere begannen erst dort literarisch tätig zu werden und letztendlich wirkte sich die Exilerfahrung auch auf nachfolgende Generationen aus. Aber auch in thematischer Hinsicht hat die Forschung neue Maßstäbe gesetzt: Exilliteratur wird nicht mehr auf Widerstandsliteratur reduziert. Anerkannt wird das vielgestaltige Schaffen von AutorInnen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, die die Fluchterfahrung eint bzw. deren Leben essentiell davon bestimmt war und ist. Als Beispiel für Literatur, die sich einer solchen zeitlichen und thematischen Eingrenzung entzieht, dient der bereits erwähnte Band Mimff Takes Over von Kaeser aus dem Jahre 1954. Und auch das Werk Lansburghs, der erst 32 Jahre nach Kriegsende aus Schweden in die Bundesrepublik zurückkehrte, wurde in die Tagung mit einbezogen. Zu Recht, denn seine Erfahrungen in der Fremde bestimmten sein literarisches Schaffen bis zuletzt.

In diesem Rahmen warf Dr. Giorgia Sogos, tätig am Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen, die Frage auf, inwieweit Hanne Kaufmanns Die Nacht am Öresund. Ein jüdisches Schicksal als Beitrag zur Exilliteratur verstanden werden kann. Das Buch, in welchem die Literatin ihre Erinnerungen an die Flucht von Dänemark nach Schweden schildert, erschien mit großer zeitlicher Verzögerung 1968 in Dänemark, ehe es 1994 auch in Deutschland verlegt wurde. Darüber hinaus sind Kaufmanns Erinnerungen weder politisch, noch können sie als literarisches Aufbegehren gegen den Nationalsozialismus geltend gemacht werden. Und dennoch muss dieses Werk nach heutigen Maßstäben der Exilliteratur zugerechnet werden. Moderator Niels Penke stellte zusammenfassend noch einmal heraus, dass wie bei Lazar auch bei Kaufmann der Aspekt der zeitlichen Verzögerung zentral ist und machte deutlich, dass der im Tagungstitel inhaltlich gesetzte Zeitrahmen (1933 bis heute) notwendig ist, um beiden Autorinnen umfassend und vollständig gerecht zu werden.

Zentren und Peripherien

Hartmut Hombrecher, Masterstudent der Komparatistik und tätig an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle des Seminar für Deutsche Philologie in Göttingen, beleuchtete ein Literatursystem nicht-deutschsprachiger ExilautorInnen im skandinavischen Raum – die estnische Exilgemeinschaft in Schweden und ihre AutorInnen und LiteraturvermittlerInnen. Die Beiträge zu Hildegard Johanna Kaeser, Lisa Tetzner und Maria Lazar haben gezeigt, dass die Exilsituation die Suche nach einem Verlag oft erschwert hat. Anders hingegen gestaltete sich die Situation für estnische ExilautorInnen in Schweden, welche 1950 in Lund den Schriftstellerverlag Eesti Kirjanike Kooperatiiv (EKK) gründeten, der bis 1994 bestand. Erscheint Skandinavien manchen in mehrfacher Hinsicht peripher für die Exilforschung, konnte Hombrecher zeigen, dass gerade Schweden neben Deutschland und Kanada ein wichtiges Zentrum für die estnische Exilliteratur war. Ziel des EKK war es, die literarische Tradition der vorsowjetischen Zeit im schwedischen Exil fortzuführen und sich vom sowjetisch kulturell dominierten Estland abzusetzen. Insgesamt waren 80% aller Veröffentlichungen des Verlages Erstveröffentlichungen, was von der literarischen Schaffenskraft der EstInnen in Schweden zeugt. Zudem erleichterte das EKK estnischen SchriftstellerInnen, ihre Bücher zu publizieren, indem ein Buchclub etabliert wurde. Hombrechers Vortrag ließ den Eindruck entstehen, dass das EKK die Entwicklung estnischer Parallelstrukturen förderte; immerhin waren die publizistischen Netzwerke vor allem auf die estnische Gemeinschaft beschränkt. Nach außen wurden im Wesentlichen die kulturellen Leistungen der EstInnen vermittelt, darüber hinaus allerdings kaum Übersetzungen ins Schwedische realisiert. Ein äußerst produktives, aber hermetisches System, das erfolgreich die Zeit des Exils überlebte.

Sichtbar machen und in Beziehung setzen

Bereits im ersten Panel der Tagung wurde die Betrachtung einzelner AutorInnen und -verlage erweitert um Aspekte der Verschränkung von damaligen und aktuellen Fluchtbewegungen und gegenwärtiger Bemühungen, der Exilforschung mittels digitaler Techniken neue Instrumente und Methoden an die Hand zu geben. Moderatorin Friederike Schruhl stellte die die Referierenden Anna-Lena Markus vom Buddenbrookhaus Lübeck und Daniel Burckhardt, Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, vor und leitete zu der Frage über, wie Literatur im öffentlichen und digitalen Raum sichtbar gemacht werden könne. Markus erörterte die grundlegenden Aspekte der Konzeption zur Sonderausstellung Fremde Heimat. Flucht und Exil der Familie Mann, die noch bis zum 08.01.2017 im Buddenbrookhaus besucht werden kann. Die Ausstellung beinhaltet zwei Perspektiven: Zum einen wird die Exilgeschichte sowie das politische Engagement der Familie um Thomas und Heinrich Mann beleuchtet, zum anderen stellt die Schau einen Bezug zur aktuellen Fluchtbewegung her.

Die Lübecker Präsentation inszeniert die Romane Mario und der Zauberer, Doktor Faustus, Mephisto und Die Jugend des Königs Henri Quarte der Schriftsteller Thomas, Klaus und Heinrich Mann in sogenannten »Literaturinseln« im Raum und setzt sie mit Ereignissen aus der Zeit der NS-Herrschaft und aktuellen Geschehnissen der Flüchtlingskrise in Beziehung. Indem die gegenwärtige Fluchtbewegung thematisiert wird, sollen die BesucherInnen die historischen Ereignisse, welche die Biographien der Manns geprägt haben, nachvollziehen können. Der Fokus liegt hierbei auf der emotionalen Erfahrung der BesucherInnen. Plakatwände, welche in einer Collage historische Bilder und Dokumente mit Zitaten der Familie Mann in einen Dialog setzen und weitestgehend auf einen kuratorischen Text verzichten, sollen den Besuchenden, so Markus, bewusst auch überfordern und verunsichern. Durch eine leibliche und atmosphärische Vermittlung sowie interaktive Elemente soll Identifikation ermöglicht und Distanz zu den historischen und aktuellen Ereignissen verringert werden.

Daniel Burckhardt stellte darüber hinaus die Anwendbarkeit des von ihm mitgestalteten Webportals www.verbrannte-und-verbannte.de für die skandinavische Exilforschung vor. Das Projekt, das auf Grundlage der sogenannten Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, seit 1935 von der Reichsschrifttumskammer regelmäßig herausgegeben, basiert, fokussiert eine Digitalisierung der bio- und bibliographischen Daten von 1933 bis 1945, jedoch ohne einer konkreten Forschungsfrage nachgegangen zu sein. Stattdessen sollen sich auf Grundlage der Ergebnisse, die in Karten, Statistiken, Netzwerken etc. visualisiert werden, Anschlussfragen in Forschung und Vermittlung auslösen.

Der Mathematiker Burckhardt ging gleichzeitig selbstkritisch auf Defizite des Webportals ein: Einige Daten zu AutorInnen und Werk seien unvollständig, falsch oder trivial. Deshalb wünschte sich Burckhardt eine Bereinigung fehlerhafter und die Ergänzung fehlender Daten. Hier würde sich eine Zusammenarbeit zwischen MathematikerInnen, InformatikerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen sicherlich lohnen, um diese Techniken für die Exilforschung besser nutzbar zu machen – ein Anspruch, den das Webportal, hervorgegangen aus dem Kultur-Hackathon {COD1NG DA V1NC1} in Berlin 2014, ja nicht hatte. Zu klären wäre in diesem Zusammenhang, welche AutorInnen überhaupt in die Darstellung aufgenommen werden sollten, denn der Zusammenhang von »Publikationsverbot« und »Exil« ist durchaus problematisch. Schließlich gibt es ExilautorInnen, deren Werke in Nazi-Deutschland nicht verboten gewesen sind, andererseits auch AutorInnen, die in Deutschland blieben, obwohl ihre Werke verboten wurden.

Transkulturelle Autorschaft

Im Mittelpunkt des Rahmenprogramms stand die Lesung und das Gespräch mit Aris Fioretos, moderiert von der Direktorin des Skandinavischen Seminars Prof. Dr. Karin Hoff. Der schwedische Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Essayist mit österreichisch-griechischer Abstammung gilt als Kulturvermittler zwischen Schweden und Deutschland. Wohnhaft in Stockholm und Berlin, Professor für Ästhetik an der Hochschule Södertörn bei Stockholm und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verkörpert und lebt er eine transkulturelle Autorschaft. Fioretos präsentierte seinen 2015 im Hanser Verlag auf Deutsch erschienenen Roman Mary und seine Forschung zur deutsch-schwedischen Schriftstellerin Nelly Sachs. In diesem Zusammenhang hob Fioretos hervor, dass er selbst mit der Psychopathologie des Exils und der Migration bestens vertraut sei: Sein Vater floh in den 1950er-Jahren aus politischen Gründen aus Griechenland nach Schweden. Der Roman Mary handelt von einer schwangeren Studentin, die im Zuge von Studentenprotesten in einem Land, in dem das Militär regiert, verhaftet, verhört und gefoltert wird. Zwar wird Griechenland in dem Roman nicht explizit erwähnt, doch die Bezüge zu den dortigen Studentenunruhen Anfang der 1970er-Jahre sind deutlich. Fioretos las Auszüge aus seinem Roman in deutscher und schwedischer Sprache.

Das weitere Gespräch zwischen Fioretos und Hoff berührte dann auch die Schriftstellerin Nelly Sachs und die von Fioretos im Suhrkamp Verlag herausgegebenen vier kommentierten Bände zu der deutschsprachigen Exilautorin. Im Gespräch mit Hoff ging er auf Vita und Schlüsselerlebnisse Sachs‘ ein. Er warf die Frage auf, wer sich denn überhaupt für das Werk von ExilautorInnen zuständig fühlt. Nelly Sachs begann ihr literarisches Schaffen im schwedischen Exil. Dort musste sie, wie alle emigrierten AutorInnen, eine Entscheidung treffen: entweder die neue Sprache anzunehmen und zu versuchen, sich lesbar zu machen, oder die Muttersprache in der Fremde konservieren. Zwar übersetzte Nelly Sachs aus dem Schwedischen. In dem Land ihres Exils wurde sie dennoch nicht kanonisiert; ihre eigenen Werke verfasste sie auf Deutsch. Nach Kriegsende blieb Sachs in Schweden, zu tief war die Angst vor Deutschland. Einen Zugang zur deutschen literarischen Öffentlichkeit suchte die Autorin 1947 mit ihrem Gedichtband In den Wohnungen des Todes (Aufbau-Verlag). Jedoch fand sie für ihre Lyrik keine Anerkennung. Zu dominant war beispielsweise die Literatur der Gruppe `47. Nelly Sachs war nicht mehr gefragt, sie empfand sich als abgekoppelt und vergessen. Schließlich fragte Hoff Fioretos nach der Exilsituation von SchriftstellerInnen im heutigen Schweden. »Ja, es ist einfacher geworden«, bestätigte der Autor. Die Integration von EinwanderInnen in Schweden sei vor allem im Kulturbetrieb und in der Medienlandschaft, allem voran im Fernsehen, offensichtlich. Dort seien SchwedInnen mit Migrationshintergrund, »die unsere Sprache und Kultur teilen«, omnipräsent.

Komplexes Feld mit weißen Flecken

Zum Auftakt der Abschlussdiskussion hoben die Veranstalterinnen hervor, dass dank der unterschiedlichen eingereichten Beiträge viele konzeptuelle und inhaltliche Ansprüche an die Tagung umgesetzt werden konnten. Es wurde jedoch betont, dass das Forschungsfeld Exilliteratur noch immer weiße Flecken hätte, die es zu entdecken gelte. Frau Prof. Hoff appellierte an die TeilnehmerInnen der Tagung, dass die Gesamtheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen der AutorInnen in den Blickpunkt genommen werden müsste. Autorzentrierte und autonomieästhetische Vorstellungen hingegen seien nicht mehr zeitgemäß. Auch unveröffentlichte Exilliteratur in die Forschung zu integrieren, stellte sich als weiteres Desiderat heraus, über das sich die Diskussionsteilnehmenden einig waren. In der Exilliteraturforschung fehlten häufig interkulturelle und interdisziplinäre Kompetenzen der Forschenden, schließlich sei die Exilliteraturforschung ein komplexes Feld. Julia Benner hatte ihre Keynote mit folgender Frage eröffnet: Ist das Thema Exilliteratur schon abgearbeitet oder besteht noch Forschungsbedarf? ReferentInnen und ModeratorInnen machten in den Vorträgen und Diskussionen einhellig klar: Ja, es besteht noch Forschungsbedarf. Alle BeiträgerInnen konnten an diesen zwei Tagen in Göttingen neue Forschungsergebnisse präsentieren, verwiesen aber auch auf noch ungeklärte Fragen. Dabei müssten, so Benner, auch bereits erforschte Themen wieder aufgegriffen und in neue Kontexte gefasst werden. Prof. Hoff mahnte an, dass es zudem unumgänglich sei, die Grenzen zwischen den Philologien einzureißen, ansonsten führe die Exilforschung, die sich immer mit dem Kulturtransfer zwischen mindestens zwei Sprach- und Kulturräumen beschäftigt, in eine Sackgasse.

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