In ihrem neuen Roman Violeta nimmt Isabel Allende ihre Leser:innen mit ins Chile des 20. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte der 100 Jahre alten Violeta, beginnend mit der Spanischen Grippe und der Weltwirtschaftskrise, bis hin zu persönlichen Schicksalsschlägen, immer eng verbunden mit der Geschichte des Landes.
Von Katharina Huckemeyer
1920 bis 2020 – ein ganzes Jahrhundert umspannt von zwei Pandemien. Das ist das Leben von Violeta del Vale, deren Leben Isabel Allende in ihrem neuen Roman Violeta schildert. Bei Violetas Geburt grassiert die spanische Grippe; sie stirbt während der weltweiten Corona-Pandemie. Dazwischen passiert viel: die Weltwirtschaftskrise, die die Familie del Vale hart trifft und den Vater in den Suizid treibt. Die Familie bricht auseinander und Violeta wächst abgeschieden im Hinterland von Chile auf, plant dann ihre Heirat mit einem jungen deutschen Tierarzt. Doch es kommt anders. Ehe und Partnerschaft in den 50er-Jahren, häusliche Gewalt, Drogen, politische Umstürze bis hin zum Bürgerkrieg beeinflussen Violetas Leben, das sie schließlich zur emanzipierten Geschäftsfrau und Feministin macht.
Ein Leben eingerahmt von zwei Pandemien
Isabel Allende
Violeta
Übers. von Svenja Becker
Suhrkamp: Berlin 2022
400 Seite, 26,00€
Violeta ist zum Zeitpunkt der Erzählung 100 Jahre alt und wird nicht mehr lange leben. In Briefen berichtet sie ihrem Enkel Camilo von ihrem ereignisreichen Leben. Die Erzählung unterteilt Allende dazu in die Abschnitte Verbannung (1920-1940), Leidenschaft (1940-1960), Die Abwesenden (1960-1983) und Wiedergeburt (1983-2020). Am Anfang und Ende der vier Abschnitte stehen dabei Ereignisse, die Violetas Leben geprägt haben, wie das Kennenlernen ihres Ehemanns 1940, das große chilenische Erdbeben von 1960 oder der Beginn der Widerstände gegen die chilenische Militärdiktatur 1983.
Im Interview mit der Seattle Times verrät Allende, dass die Briefe, die sie und ihre Mutter sich über Jahrzehnte täglich geschrieben haben, Inspiration zu diesem Roman waren. Auch wenn die Autorin betont, dass es sich bei Violeta nicht um ihre Mutter handelt.
Das Private, die Gesellschaft und noch vieles mehr
Mit Violeta hat Isabel Allende genau 40 Jahre nach ihrem weltweiten Durchbuch mit ihrem Debut Das Geisterhaus wieder eine große chilenische Familiensaga geschaffen, die zeigt, wie eng das persönliche Leben mit globalen sozialen und kulturellen Fragen zusammenhängt. Nach dem Scheitern ihrer Ehe gerät Violeta in eine Beziehung, in der sie immer mehr häusliche Gewalt erfährt. Ein Thema, das insbesondere im katholisch geprägten Chile viel zu lange nicht öffentlich besprochen wurde. Auch Violetas Kinder, ihr Sohn Juan Martín und ihre Tochter Nieves sind davon betroffen. Die Tochter verstrickt sich tief ins Drogenmilieu der nahen USA und Juan Martín, der sich für die Sozialisten engagiert, muss nach dem Militärputsch 1973 aus dem Land fliehen. Insbesondere ihre gescheiterte Ehe und die anschließende missbräuchliche Beziehung zum Vater ihrer beiden Kinder prägen Violeta. Sie will nicht länger abhängig von den Männern in ihrem Leben sein, was ihr durch ihre finanziellen Mittel und mit der Hilfe ihres Bruders auch gelingt. Doch in ihrem Umfeld sieht sie, dass ein selbstständiges und unabhängiges Leben für viele andere chilenische Frauen noch immer nicht möglich ist. Sie beginnt sich für diese Frauen und für feministische Belange, wie das Recht auf Scheidung oder Abtreibung, einzusetzen.
Die Familiengeschichte, missbräuchliche Beziehungen, Feminismus, Drogen, politische Konflikte – das alles sind nur einige der Themen, die Allende in ihrem Roman anspricht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es bei dieser Fülle leider nicht zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit den einzelnen Themen kommt. Die letzten 40 Lebensjahre von Violeta werden beispielsweise auf knapp 100 Seiten zusammengefasst. Zudem wird ihr beruflicher und finanzieller Erfolg nur am Rande thematisiert.
Bei einem Roman, der knapp 400 Seiten und 100 Jahre umfasst, ist es allerdings auch kaum möglich, einzelne Themen genauer zu beleuchten. Vielmehr vereint die Figur Violeta Diskurse, die gesellschaftlich relevant sind, und zeigt, wie die politische und gesellschaftliche Geschichte eines Landes die Bewohner:innen ganz individuell beeinflusst. Allendes Sprache, übersetzt von Svenja Becker, ist flüssig und leicht zu lesen. Sprachliche Komplexität gibt es zwar selten, doch die detaillierten Charaktere, die auch die Nebenfiguren vielschichtig und nahbar erscheinen lassen, machen das wett.
Unterhaltungsroman mit Mehrwert
Auch schon in Das Geisterhaus hieß die Familie del Vale. Der Roman bietet einige Hinweise, dass es sich bei den Figuren aus Das Geisterhaus um Verwandte von Violeta handeln könnte. So erinnert Violeta 40 Jahre später zwar an den Allende-Klassiker, doch wo der Roman von 1982 stark vom magischen Realismus geprägt ist, wendet sich Allende heute mehr feministischen Themen zu und bleibt durchweg auf der realistischen Ebene (so auch in ihren 2021 erschienenen Erinnerungen Was wir Frauen wollen). Dadurch spricht Allende wieder vermehrt heutige Rezipierende an, denen eine feministische und sozialkritische Lektüre oftmals wichtig ist. Als Unterhaltungsroman, der eine emanzipierte südamerikanische Frau im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt rückt, erweitert der Roman sicherlich den Horizont einiger Leser:innen und regt zur weiteren Beschäftigung mit den angesprochenen Themen an. Besonders die jüngere Leser:innengeneration kann so die Autorin Allende kennenlernen.