Die lange Nacht des Theaters oder Reclaim ze Hochkultur: Auch in diesem Jahr bot die DT-X Party Buntes und Lautes für diejenigen, die am Samstag mehr wollten als Punsch und Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt.
Von Malik Klemm
Bild: unsplash via Pexels / CCO
Wenn man an diesem Abend den Theaterplatz überquert, kann man schnell auf den Gedanken kommen, ein neues IPhone würde irgendwo ganz in der Nähe sein Release feiern. Eine gut hundert Meter lange Menschenschlange wälzt sich den Wall hinab Richtung Theaterstraße. Man steht, wartet und friert bei vorweihnachtlicher Temperatur und dabei hat das Deutsche Theater seine Türen noch nicht einmal geöffnet. Doch verheißungsvoll kündigt die Laufschrift über dem Glasanbau des Musentempels das Geheimnis seines Inneren an: »DT-X Party #4« ist da in LED-Buchstaben zu lesen, und hinter diesem Kürzel verbirgt sich quasi die lässige Variante eines Tags der offenen Tür (fast ganz ohne Kinderschminken). Intendant Erich Sidler und sein Team trauen sich das, was für die Sicherheitsbeauftragten solcher altehrwürdiger Institutionen der schiere Alptraum ist: Sie öffnen alle drei Bühnen des Hauses am Wall für die vergnügungslustige Stadtgesellschaft. Etwa 1800 werden heute Abend kommen. Sie werden trinken, reden, tanzen, feiern, und sie werden staunen über die ungewöhnlichen neuen Perspektiven, die einem solch eine Party geben kann. Denn diese lassen sich wirklich sehen: Dort, wo im Haupthaus normalerweise das Abo-Publikum Plüsch platt sitzt, zerschneiden Laser aus Movingheads zu wummernden Bässen die Luft, während sich das Tanzvolk auf der Bühne zwischen atmosphärisch beleuchteten Brandmauern vergnügt. Darüber thront, wie aus einem Endzeitfilm entsprungen, die von flackernden Lichtern beleuchtete, rhythmisch-zuckende Maschinerie des Bühnenhauses. Der Blick von hier in den entweihten Saal der Hochkultur ist einer, der im Gedächtnis bleibt. Überhaupt eignet sich die gewachsene und gewucherte Architektur des Ortes ganz hervorragend als Tanztempel. Durch Türen, Treppenhäuser, Foyers und Anbauten fließt der Strom der Partygesellschaft geradezu durch die Räumlichkeiten und ergießt sich in die drei bereitgehaltenen Floors, wo die Rhythmen von HipHop, Funk und Electro aus den Boxen dröhnen. Auch das Volk, das hier strömt, scheint extrem bunt gemischt. Wo andernorts Gesellschaft als ein extrem ausdifferenziertes Objekt erscheint, vermischen sich hier Milieus und Altersgruppen augenscheinlich doch enorm. Theater als Anstalt sozialer Diffusion. Einzig und allein die sichtbare Überschreitung der Barriere zwischen Ensemble und Publikum, welche erklärtes Konzept des Abends zu sein scheint, kommt dabei leider etwas zu kurz. Die angekündigten Walking- und Showacts gehen in dem Getümmel der Feierwütigen meist einfach unter. Oder vielleicht kann man die schrägen Typen der verschiedenen Lager auch einfach nicht mehr unterscheiden und das Experiment ist somit gelungen – egal. In jedem Fall hat Göttingen das, was andernorts als verstaubter Opernball begangen wird, in eine heiße neue Form gegossen und wiederbelebt. Und darauf kann man echt einmal stolz sein.