Gleich ob in Politik, Gesellschaft oder der persönlichen Lebenswelt: Das vergangene Jahr barg wie kaum ein anderes des letzten Jahrzehnts humanitäre, gesellschaftliche, soziale und politische Krisen. Kunstschaffende des Kreis 34 zeigen in ihren Arbeiten, wie sie Themen des vergangenen Jahres künstlerisch bearbeitet haben.
Von Eva Schuchardt
Bilder: Eva Schuchardt, mit freundlicher Genehmigung des Künstlerhauses Göttingen
Das Künstlerhaus Göttingen zeigt gegenwärtig aktuelle Arbeiten des Kreis 34, einer Künstlervereinigung aus Göttingen, die sich aus lokalen Kunstschaffenden bildet. Die Jahresausstellung ist noch bis zum 30. Dezember im Lichtenberghaus in der Gotmarstraße 1 zu sehen.
Neben Malerei, Skulptur und Fotografie zeigt die Ausstellung auch eine Videoarbeit. Die Werke illustrieren gegenwärtige politische, gesellschaftliche, aber auch persönliche Themen der Künstler:innen und spiegeln die individuelle Auseinandersetzung der Kunstschaffenden damit wider. Alle Arbeiten sind im letzten Jahr entstanden. Ein Überblick.
Politische Gegenwart
Eines der nachdrücklichsten und wichtigsten Werke der Ausstellung ist eine dreiteilige Radierung mit einer begleitenden Videoarbeit der Künstlerin Roxana Zenhari. Ihr Werk thematisiert die gegenwärtige Revolution im Iran, die sich aus den andauernden Protesten im Land gegen das islamistische Regime entwickelte, ausgelöst durch den staatlichen Femizid an der 22-jährigen Kurdin Mahsa Zhina Amini durch die islamische Sittenpolizei.
Den vehementen Vertuschungsversuche des Regimes, Zhina Amini sei an einem Herzinfarkt verstorben, setzte sich der Widerstand der Familie, des behandelnden Krankenhauses und Augenzeugen des Mordes entgegen. Es entwickelten sich Proteste gegen das Regime und die Unterdrückung von Frauen im Iran. Schon bei Zhinas Beerdigung legten viele Frauen ihre Kopftücher ab und riefen: »Mord wegen des Kopftuchs, wie lange diese Erniedrigung?« Es war ein Wendepunkt und ein historischer Moment für viele Iraner:innen innerhalb und außerhalb des Landes. Bei den bis in die Gegenwart andauernden Protesten wurden mittlerweile mehr als 18.000 Menschen verhaftet und mindestens 470 getötet.
Roxana Zenhari greift die Revolution in ihrer Arbeit auf. Die an den Ausstellungswänden hängende Radierung fließt horizontal in einem Band aus Papier durch den Raum. Die sich aneinanderreihenden Seiten sind teils bedruckt, teils beschriftet. Am Anfang der Arbeit auf Papier steht der Mord an Mahsa Zhina Amini. Die einzelnen Seiten illustrieren die revolutionäre Bewegung, die Rolle von Künstler:innen darin und schildern auch literarische und historische Hintergründe, wie beispielsweise den Ursprung der zentralen Parole der Proteste: »Frau Leben Freiheit«.
Die Radierung rahmt die Videoarbeit, die zentriert in der Mitte des kleinen abgetrennten Bereiches an die Wand projiziert ist. Sie zeigt in einer Aneinanderreihung von Fotos und kurzen Videosequenzen verschiedene Aktivistinnen oder auch den Musiker Shervin Hajipour, dessen Lied Baray-e nach Veröffentlichung innerhalb kürzester Zeit große mediale Aufmerksamkeit erlangte und zum Manifest der Proteste wurde.
Viel Malerei
Die Künstlerin Christiane Christen zeigt in ihrem Triptychon eine abstrahierte Waldlandschaft, die in kühlen blauen Farbtönen gemalt ist. Die lose gezeichneten Umrisse der einzelnen Bäume gehen fließend ineinander über und scheinen sich in der Bildtiefe in einem schwer zu durchdringenden Waldgestöber zu verdichten.
Jede Gegenständlichkeit löst sich in den Werken der Künstlerin Martina Böminghaus auf. Farbe, Form, Fläche und Textur stehen in ihren abstrakten Arbeiten im Mittelpunkt. So funktionieren die Arbeiten nicht durch Repräsentation, sondern allein durch die Ästhetik um ihrer selbst willen. Lediglich die Titel der Werke geben dem:r Betrachter:in Möglichkeiten zur Interpretation. Wenngleich die Malereien weniger das Bedürfnis nach Sensation befriedigen, zeichnen sie sich durch ihre nicht definierbare Bildsprache und ihre individuelle Wirkung auf den:die Betrachter:in aus.
Neben den zahlreich vertretenen abstrakten Arbeiten wartet die Ausstellung jedoch auch mit einigen figurativen Malereien auf. Obwohl zunächst naiv anmutend und nicht schwer an Bedeutung, so ist es doch gerade die Unverhofftheit, mit der man auf Gemälde der Künstlerin Friederike Hammer trifft: Im Kontrast zu den überwiegend abstrakt daherkommenden Arbeiten, die tendenziell schwere und krisenhafte Themen ansprechen, will die Malerei Katze spielend mit Feder nicht viel von einer:m.
Das Gemälde ist da, es ist unmissverständlich, es darf für niedlich, naiv oder fragwürdig befunden werden, die Pinselführung für besonders schön: Die Arbeit verlangt augenscheinlich keine große Interpretationsarbeit. Gerade dadurch sticht sie jedoch angenehm positiv hervor.
Drucktechnik und Medizin
Mit Blick auf die Vielfalt der in der Ausstellung gezeigten Techniken tritt die Arbeit des Künstlers Arash Garemani hervor. In einer Collage aus verschiedenen Techniken (Zeichnung, Fotografie, Graphik) fertigte Garemani seine Arbeit Control mittels einer Cynaotypie, einem Blaudruck, an.
Garemani setzt sich inhaltlich mit modernen Technologien und den damit verbundenen Fragen und Ängsten hinsichtlich der eigenen Privatsphäre und einem Verlust von Kontrolle über diese auseinander.
Die Collagen der Künstlerin Mina Farjadi wiederum setzen sich aus geometrisch-detaillierten Farbmustern zusammen, die stellenweise in bunte Stoffflicken übergehen. Auf diese Ornamente setzt die Künstlerin Reste von alten Medikamentenverpackungen, die sich organisch in die Musterung einfügen. Sie weist auf die moderne Medizin hin, deren Lebensnotwendigkeit nicht nur nach einem dritten Covid-Jahr mit Omikron-Varianten, sondern auch dem anhaltenden Notstand in der Pflege und in Kinderkliniken existenziell ist.
Kein roter Faden, dafür Raum für eigene Lesarten
Die Ausstellungsfläche, die sich über zwei Etagen zieht, gibt dem großen Spektrum an Arbeiten genügend Raum. Auch die Hängung und räumliche Organisation der einzelnen Arbeiten ist gelungen und bietet einen abwechslungsreichen und nicht zu überladenen Galeriebesuch. Ein knapper, zweiseitiger Ausstellungstext bietet zwar Informationen zu den Arbeiten und Künstler:innen, tritt jedoch nicht als einheitlicher Fließtext auf, sondern behandelt jede:n Künstler:in isoliert.
Wenngleich der Anlass der Ausstellung durch die Zusammenbringung lokaler Kunstschaffender und der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem vergangenen Jahr gegeben ist, so fehlt doch ein alle Werke einendes, enger gefasstes Motiv, Thema oder Sujet – ein roter Faden, der sich auch in einem etwas inspirierteren Ausstellungstitel hätte widerspiegeln können. Die Künstler:innen beschäftigen sich mit Themen, die sie, persönlich oder auch als Teil der Gesellschaft, im letzten Jahr bewegt haben. Vielleicht ist aber auch gerade dadurch ein roter Faden nicht notwendig, so ist der:die Besucher:in doch bei jedem Werk aufs Neue dazu aufgefordert, seine:ihre Lesart auf Null zurückzusetzen und seine:ihre Gedanken über das vergangene Jahr zu vertiefen. Dennoch würde ein erkennbarer Faden den inhaltlichen Zugang für (möglicherweise) weniger kunstaffine Personen erleichtern. Trotzdem bietet die Ausstellung Raum für Künstler:innen aus Göttingen, würdigt ihr Schaffen und stellt eine tolle Möglichkeit dar, diese anzusehen und wahrzunehmen.
Das Künstlerhaus Göttingen hat dienstags bis freitags von 16 bis 18 Uhr sowie samstags und sonntags von 11 bis 16 Uhr geöffnet.