Betrachtet man Sand unter dem Mikroskop, schillern die scheinbar gewöhnlichen Körnchen in einer atemberaubenden Fülle von Farben und Formen. Dagmar Leupold mikroskopiert in Dagegen die Elefanten! den Alltag eines einsamen Garderobiers, erkundet das Unsichtbare, Marginalisierte und Subalterne und lässt die verborgene Schönheit alltäglicher Momente zum Vorschein kommen.
Von Carl Ohlms
Ein einzelner unscheinbarer Mantel, nach einer Opernvorstellung am Haken der Garderobe des Opernhauses vergessen, bedeutet für Herrn Harald – der hinter der Garderobe arbeitet – eine Katastrophe: In der Manteltasche findet er eine Pistole. Panisch steckt er sie selbst in die Tasche und nimmt sie mit nach Hause. Sein Leben gerät aus den Fugen, seine akkurate Ordnung wird zerrüttet. Was sich nach einem typischen Krimi-Plot anhört, betrachtet Dagmar Leupolds Charakterstudie Dagegen die Elefanten! durch das bemerkenswerte Innenleben ihres Protagonisten wie durch ein Kaleidoskop und hält unerwartete erzählerische Lösungen bereit.
Äußerlich beläuft sich der Plot des Romans auf den Alltag Herrn Haralds. Vor dem Fund in der Manteltasche bewegt sich sein Leben in genau abgezirkelten Bahnen: Er geht einkaufen, kocht, geht an freien Tagen in die Bibliothek und ins Konzert, kauft ein, geht Spazieren, in den Waschsalon, in die Apotheke und abends nimmt er seinen Arbeitsplatz hinter der Garderobe des Opernhauses ein – seinen »Herrschaftsbereich«, wie er ihn selbst nennt. So gehen die Monate dahin. Alles in Ordnung. So weit, so gewöhnlich. Das eigentlich Spannende passiert hingegen im Inneren des Protagonisten, in seinen Gedanken, Tagträumen, Erinnerungen und Imaginationen. Nachdem er die Pistole findet, tun sich feine Risse in seinen festgefügten Gewohnheiten auf. Mehr und mehr wirft es ihn aus der Bahn. Seine Innenwelt wird erschüttert.
»Nanovermessungen«
Die Außenwelt ist für Herrn Harald oft in ihrer Überwältigung nicht auf einmal zu begreifen. Die Realität wirkt dumpf, wie hinter Glas, unpersönlich. Ruhe findet Herr Harald nur in den entlegenen Winkeln seines eigenen Kopfes. Wenn ihn etwas aufwühlt, schließt er die Augen, zählt bis 15 und denkt über das nach, worauf sein Blick als erstes fällt. Leupold verlagert die Perspektive in Herrn Haralds Innenwelt, in die Kammern seines Geistes, wo er sich die Welt erschließt, sie in Sprache verwandelt und sich zu eigen macht. Häppchenweise, immer nur eine Einzelheit beleuchtend:
Beim Lesen nehmen wir mit Herrn Harald diese Sichtweise ein, visieren stets einen kleinen Schärfebereich an, ein Detail, alltäglich, leicht zu übersehen, ein Wort, ein Ding, eine unscheinbare Geste. Alles wird ganz dicht herangeholt und vor dem (inneren) Auge hin und her gedreht. Dazu sprießen in Herrn Haralds Kopf die Assoziationen, Reime und Assonanzen. Er fantasiert und imaginiert, lässt sich die Namen der Dinge auf der Zunge zergehen, schmeckt sie ab und prüft sie auf Welthaltigkeit:
Und wenn er auf einen Gedanken, einen Satz oder ein Bild stößt, das ihm Gültigkeit zu besitzen scheint, schreibt es Herr Harald in sein Notizbuch. Gedanken, die ihm nicht gefallen, verbannt er gleichermaßen aus seiner Erinnerung:
Der Roman besteht zu einem großen Teil aus solchen liebevollen Bildern. Zart und wortspielerisch ist Herr Haralds Umgang mit den Dingen. Manchmal laufen die Gedankengänge ins Leere, sind elliptisch, manchmal wuchernd und sprunghaft, manchmal behutsam oder verspielt. Das ist mal mehr, mal weniger interessant. Herr Haralds innerer Monolog changiert zwischen faszinierenden Gedanken, die beim Lesen innehalten lassen und wunderschönen, warmherzigen Bildern einerseits, andererseits kippt die Sprache mithin ins Manierierte, betont Schrullige, dessen Miniatur nicht mehr eine neue Perspektive auf scheinbar Alltägliches eröffnet, sondern eher an eine weichgespülte Rhetorik der Achtsamkeit und Entschleunigung grenzt.
Dagmar Leupold
Dagegen die Elefanten!
Jung und Jung: Salzburg 2022
272 Seiten, 23,00€
Durch die Welt schlendern
Auf den ersten Blick kann es wirken, als zeichne Dagmar Leupold Herrn Harald als eine Art Eremiten, als weltfremden, aus der Zeit gefallenen Außenseiter, der den Kontakt mit Menschen scheut und sich nur in seiner eigenen kleinen Welt wohlfühlt. Dagegen die Elefanten! ist aber gerade kein eskapistischer Rückzug in einen hermetischen Mikrokosmos, kein um sich selbst kreisendes Sprachspiel, keine Weltflucht – im Gegenteil, Herrn Haralds Perspektive einzunehmen bringt näher an die Welt heran. Herr Haralds Zugang zur Welt ist ein besonders gründlicher. Ein Gegenmodell zum schwindelerregenden Content-Flut des Digitalen Zeitalter, zum Bedürfnis, stets »auf dem Laufenden« zu sein: Er geht in seinem eigenen Tempo und mit seinem eigenen, sehr bewussten Rhythmus, anstatt zu versuchen, mit der Welt der Nachrichten, Diskurse und Innovationen mitzuhasten. Herr Harald ist ausgestattet mit einem speziellen Sensorium für die Dinge seiner Umwelt, das der Roman einlädt, beim Lesen in sich selbst nachzubilden. Das erfordert aber von den Lesenden die Bereitschaft, sich dem gemächlichen Tempo des Romans anzupassen, nicht ungeduldig zu werden mit dem spärlichen Plot und an Herrn Haralds Seite zu verharren, versunken in eine scheinbare Kleinigkeit.
Es ist dem Buch hoch anzurechnen, dass es sich trotz der konsequenten Fixierung auf die alltäglichen Verrichtungen eines Menschen nicht in dessen Idiosynkrasien vergräbt, um ein möglichst vollständiges und detailliertes Portrait anzufertigen. Leupold versteht, egal wie nah man herangeht, wie gut man ihn zu kennen glaubt, es bleibt immer ein unergründlicher, wenn nicht gar verstörender Rest (den sie äußerst subtil anklingen lässt). Herr Harald wird bis zum Schluss nicht enträtselt. Der Roman endet mit einem Fragezeichen. Vielmehr weist die Darstellung von Herrn Haralds Innenleben über sich hinaus, ist eher eine Brille, die der:die Leser:in anprobieren darf als die völlige Durchdringung einer Figur. Auch der Mantel-Plot ist nur ein Vorwand, um sichtbar zu machen, was im Dahinrauschen des Alltags oft übersehen wird und für gewöhnlich durchs Raster fällt. Herr Harald – indem er den Blick verengt – sieht mehr, als mit dem gewöhnlichen Blick zu sehen ist, obwohl oder gerade weil sein Ausschnitt der Welt kleiner ist.
Die Schönheit des Banalen
Kunstwerke, die die Schönheit des Banalen feiern wollen, laufen Gefahr, selbst zu banalen Kunstwerken zu werden. Dem entgeht Dagegen die Elefanten! dank der vielen wunderlich originellen Ideen, denen wir mit Herrn Harald begegnen. Sicher, nicht alles an diesem Buch ist von bewusstseinserweiternder Genialität; manches fühlt sich betagt an, der ironische Humor hat bisweilen eine Patina angesetzt. Und sicher, man sollte nicht überschätzen, was das Einnehmen von Herrn Haralds Sichtweise leisten kann. Dennoch ist der bewusst kleine Rahmen der Erzählung äußerst erfrischend. Der Roman überschätzt sein eigenes Format nicht. Er präsentiert einen begrenzten Kosmos, der dafür minutiös ausgeforscht wird. Der Roman will nicht mehr sein, als er ist. Er gibt sich nicht den Anschein der Gesellschaftsanalyse, der philosophischen Bedeutungsschwere oder der großen Tragödie. Er betont seine eigene Miniatur und blüht darin auf. Die Kehrseite, zu der der Roman bisweilen aber auch neigt, ist eine gewisse Provinzialität, eine Betulichkeit der Sprache und demonstrative Naivität mancher Bilder und Charakterisierungen. So ist er einerseits ein Plädoyer für eine andere, eine konzentrierte, ernsthafte, poetische Art des Erlebens und lädt zugleich doch sehr dazu ein, sich behaglich in ihm einzukuscheln.