Die willensstarke Frau

Im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes fand am 29. Oktober die Lesung »obstinate, headstrong girl« statt. Das eingespielte Duo Carolin Emcke und Anke Engelke trug im Wechsel literarische Texte von Frauen zu feministischen Themen vor. Eine ergreifende und wichtige Lesung, die noch lange nachhallt.

Von Julia Klumpe und Sidney Lazerus

Bilder: Julia Klumpe

Die Sheddachhalle in Göttingen füllt sich am 29. Oktober schnell mit vielen Menschen. Neugierige, gespannte und aufgeregte Gesichter überall. In der Luft liegt eine Spannung, die nicht mit Worten zu beschreiben ist. Alle warten erwartungsvoll auf das Duo des Abends: Anke Engelke und Carolin Emcke. Auf einmal stehen sie, eng beieinander, auf der Bühne. Der Applaus ist lang. Herzlich lächelnd begrüßen sie das Publikum. Dann geht es auch schon los: Emcke und Engelke lesen abwechselnde verschiedene Textauszüge, zwischendurch gibt Emcke thematische Erläuterungen, die durch den Abend führen. 

Engelke beginnt mit einer Szene aus Stolz und Vorurteil von Jane Austen, in der die Protagonistin Elizabeth Bennet als unerhörtes, beschämendes und eigensinniges Mädchen bezeichnet wird. Ein eigener Sinn – etwas, das laut Emcke bei Frauen offenbar als unmöglich gilt und ihnen von klein auf abzugewöhnen versucht wird. Die eigenen Wünsche gehören zurückgestellt, ein Mädchen muss sich anpassen, so Emckes Gedanken zu dem Ausschnitt. Den Dialog Elizabeths und Lady Catherines, letztere von der stoischen Ruhe des Mädchen immer weiter angestachelt, stellt Engelke so vollendet nach, dass das Publikum zu lachen anfangen muss.

Ein Märchen der Gebrüder Grimm mit dem Titel Das eigensinnige Kind wird vorgetragen, dessen Brutalität die Zuhörer:innen den gemurmelten Reaktionen nach zu urteilen regelrecht erschüttert und ungläubig zurücklässt. Engelke lockert die Stimmung mit dem Satz: »Ach jetzt tun Sie doch nicht so, Sie haben das alle Ihren Kindern vorgelesen!« humorvoll auf. Auch auf die heutige Zeit nimmt Emcke durch einen Seitenhieb auf Wladimir Putin Bezug: Putins größte Angst liege in der selbständigen Frau, weshalb er die Gender-Freiheit so stark angreife. Engelke und Emcke sind wohl das beste Beispiel für Putins Furcht: »obstinate, headstrong girl[s]«. Auf der Bühne harmonieren sie fantastishen, lesen die Texte so kunstgerecht vor, dass man als Zuhörer:in mit den Figuren mitfiebert. 

Die Auswahl: humorvoll, eindringlich, kraftvoll

So wird viel gelacht in der bis auf den letzten Platz ausgebuchten Sheddachhalle, etwa als Engelke wiederholt aus Frausein von Mely Kiyak vorliest, zum Beispiel sehr amüsante Beschreibungen von intimen Berührungen. Als Lieblingsstelle der gesamten Lesung heben die beiden den Satz »Es ist schön, eine Frau zu sein« in Kiyaks Text hervor. »Aber bleiben Sie bitte trotzdem noch da und hören weiter zu«, scherzt Engelke.

Die Interaktion sowohl zwischen Emcke und Engelke als auch zwischen ihnen und der Zuhörer:innenschaft ist sehr locker, entspannt und angenehm, sodass die Zeit nur so verfliegt. Aber auch ernste Passagen gibt es: So ist es für die Protagonistin aus Frausein weit entfernt, ja gar unvorstellbar, sich auszumalen, als Erwachsene eine Frau zu werden, die sich von anderen unterscheidet. Eine erfolgreiche, stolze Frau, keine Putzfrau oder Fabrikarbeiterin, was als Referenzpunkt für alles gilt.

Carolin Emcke (l.) und Anke Engelke lasen sich durch eine diverse Textauswahl. Bild: Julia Klumpe

Im Ausschnitt aus Das Ereignis von Annie Ernaux geht es um das Thema Abtreibung. Anne, einer jungen Studentin, wird der Boden unter den Füßen weggerissen, als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Sie schwebt in Gefahr, dass ihre soziale Herkunft, der sie mit einem Uniabschluss zu entfliehen versuchte, sie wieder einholt. Sie entscheidet sich für eine Abtreibung, obwohl diese in Frankreich in den 1960ern illegal ist. Darüber, dass sie dabei sterben könnte, macht sie sich keine Gedanken. Denn als alleinerziehende, unverheiratete Frau wäre ein Kind das Scheitern ihres so sehr gewollten sozialen Aufstiegs. Sie ist sich sicher: Sie würde alles verlieren.

Auch in Simone de Beauvoirs Klassiker Das andere Geschlecht von 1949 wird deutlich, dass die von Anfang an ungleiche Behandlung von Mädchen und Jungen massiv in das Leben von Kindern eingreift:  »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«. Die Passivität von Frauen entwickle sich erst, sie sei keine biologische Begebenheit, sondern das Schicksal von Mädchen, eine Bürde. Weiblichkeit entstehe durch andere, sei mehr als reine Körperlichkeit und sozial aufgeladen, betont Emcke.

So unterschiedlich die Texte und Schicksale der Frauen auf den ersten Blick sind, eines haben alle gemeinsam: Sie stehen unter dem Thema Feminismus. Jeder Text beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Norm und wie diese Frauen unterdrückt. Viele Autorinnen beschreiben einen inneren Kampf mit sich selbst und den Wunsch, aus dieser Norm auszubrechen, um ein freiheitliches und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Doch dies ist nie so einfach, wie man es sich vorstellt. 

Die Bedeutung der Literatur

Mit viel Emotion und Leidenschaft trägt Anke Engelke mehrere Ausschnitte aus Jeanette Wintersons »Warum glücklich statt einfach nur normal?« vorgetragen. Es geht um ein wissbegieriges junges Mädchen – ein absolutes Tabu. Die fanatisch religiöse Adoptivmutter schirmt sie von »weltlichen Einflüssen« ab, will nicht, dass ihr eigenes Kind Bücher liest. Denn habe man ein Buch erst gelesen, sei es zu spät. Zu spät aber für was? Die Konsequenz aus diesem Verbot: Das Mädchen macht es heimlich, erstellt eine Leseliste der englischsprachigen Literatur von A bis Z und liest sich durch alles. So langsam kommen dabei Fragen auf, die sie vorher nicht gehabt hat: Fragen über Sex und die Entdeckung der eigenen lesbischen Sexualität. Durch die Literatur beginnt die junge Frau ihren Blickwinkel zu erweitern.

Emcke macht deutlich, dass viele Tabus von Generation zu Generation weitergegeben würden, sodass Frauen sich ihre eigene Identität erst enträtseln müssten. Sie müssten auf Spurensuche gehen und sich, wie die Protagonistin, heimlich Wissen aneignen, um die Regeln des Schweigens und die Fremdbestimmung zu durchbrechen.

Emcke erzählt in einer kurzen Lesepause auch davon, wie sie und Engelke erst bei der gemeinsamen Auswahl der Texte feststellten, was für eine erhebliche Bedeutung die Rolle von Literatur und Sprache bei der Suche nach dem eigenen Willen hat. Das Lesen von Texten, Essays, Romanen, schärfe die Konturen der eigenen Identität. Sie könne die kurzzeitige Flucht in eine andere Welt sein, Widerstand schüren oder Trost spenden.

Frauen als Vorbilder

Göttinger Literaturherbst 2022

Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.

Von witzigen bis zu ernsten und sogar politischen Texten, klassischen und gegenwärtigen, ist bei der Auswahl alles dabei. Auch politische Texte finden ihren Platz in der Lesung: Der Ausschnitt aus Die Frauen von Belarus erzählt von der mutigen Kandidatur Swetlana Tichanowskajas gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko.

Mit einem eigenen Text rundet Carolin Emcke die Lesung ab. Sie schreibt darüber, dass kaum weibliche Schriftstellerinnen auf dem Lehrplan in Schulen stehen und auch Superhelden in Filmen fast immer männlich sind. Es zeigt sich, dass starke und selbstbestimmte Frauen in vielen Genres nicht gerne gesehen werden und weibliche Vorbilder in der Literatur rar sind. Emcke fragte sich in ihrem Text, ob sie sich in Frauen in Filmen verliebt, weil die Perspektive es so vorgibt, oder ob es wahrhaftig ihre eigenen Gefühle sind, die unabhängig von irgendwelchen Geschlechterrollen entstehen.

Das besondere Zusammenspiel zwischen Emcke und Engelke

Emcke und Engelke wirken auf der Bühne sehr vertraut miteinander und scheinen auf einer Wellenlänge zu sein. Die beiden haben merklich Spaß an der Lesung, bringen Scherze ein, tauschen amüsierte Blicke aus, hören einander wertschätzend und aufmerksam zu. Nachdem Emcke den letzten Satz vorgetragen hat, nehmen sich beide an einer Hand. So wird die Veranstaltung nie langweilig und lebt vor allem vom herzlichen Zusammenspiel der beiden Frauen – das beweist auch der am Ende sehr lang anhaltende Beifall des Publikums. Zum Schluss sagt Engelke : »Wir kommen gerne wieder!«

Eine bewegende Lesung mit abwechslungsreichen Texten, die gezeigt haben, wie wichtig Feminismus bleibt und wie schwer es für Frauen war und immer noch ist, aus der gesellschaftlichen Norm auszubrechen, um einfach nur frei sein zu können. Oder, um es mit den Worten von Carolin Emcke zu sagen: »Nie wollte ich ein Mann sein, ich wollte nur frei sein«.

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