Jan Wiele, Redakteur der F.A.Z., trat mit seinem Eröffnungsvortrag »Back to Basics« im Rahmen des Literaturherbstes die Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik an. Er brach eine Lanze für die Literaturkritik als bedeutsamer Kulturtechnik. Es moderierte Heinrich Detering.
Von Mareike Röhricht
Bilder: Hanna Sellheim
Am 25. Oktober hat Jan Wiele, bekannt vor allem als Redakteur des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die alljährlich zum Wintersemester vergebene Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik angetreten. Deren Eröffnungsvortrag war in diesem Jahr erstmalig Teil des Programms des Göttinger Literaturherbsts. Die von der Abteilung Komparatistik der Göttinger Universität ausgerichtete und durch den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht geförderte Gastdozentur geht, wie auch die Lichtenberg-Gastdozentur, auf Heinz Ludwig Arnolds Engagement zur Vernetzung von Universität und Gesellschaft, beziehungsweise literarischem Leben zurück.
Im gut besuchten Adam-von-Trott Saal am Wilhelmsplatz, kehrt rasch Ruhe ein, als Heinrich Detering, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, zur Einführung des Gastdozenten an das Rednerpult tritt. Ihn und Wiele verbindet ein Faible für Bob Dylan – Detering lobt Wieles einfühlsame und sachkundige Arbeiten über diverse Werke der Popkultur, bevor er das das Publikum kurz und prägnant durch Wieles berufliche Vita führt. Unter dem Titel »Back to Basics« bricht Jan Wiele dann in seinem knapp vierzigminütigen Vortrag eine Lanze für die Literaturkritik als bedeutsamer Kulturtechnik, der (wieder) mehr Raum in den öffentlichen Diskursen eingeräumt werden sollte.
Orientierungssuche – zwischen Wandel und Grundlagen
Zum Titel sei er, so verrät Wiele eingangs, durch eine alte Postkarte inspiriert worden. Er sei zwar noch keine 80 Jahre alt, aber doch in einem Alter, in dem er bereits einige berufliche Erfahrung gesammelt habe und sich gut überlegen müsse, in welche Richtungen er weiter voranschreiten wolle. Auf Basis der damit verbundenen Reflektionen wolle er in seinem Vortrag nicht nur jammern, sondern auch einige Appelle an das Publikum richten.
Zunächst skizziert er, wie der mediale und gesellschaftliche Wandel sich auf die Praxis der Literaturkritik und der Textform als solcher sowohl auf formal-ästhetischer als auch semantischer Ebene auswirkten, wie Rezeptionsgewohnheiten und -erwartungen sich änderten und welche Konsequenzen sich daraus ergäben. Unter dem Slogan ›Lost in Translation‹ erklärt er zum Beispiel, inwieweit das Format der Literaturkritik aus seiner Sicht unter der Digitalisierung leide: Neben dem Hang zu reißerischen Aufmachern und zunehmender Verkürzung kritisiert er erhebliche »ästhetische Reibungsverluste«. Als Beispiel dafür nennt er die mit dem Transfer der Rezension in den digitalen Raum einhergegangene Verdrängung der Kursivsetzung – im Fachjargon Kursivling – welcher Hinweis auf Glossen und damit ironische und humorvolle Positionen der Rezensent:innen war. (Dazu sei angemerkt, dass der Kursivling technisch möglich ist – wie auch Litlog zeigt – womöglich ist er dennoch rückläufig oder fällt weniger prägnant auf, weil sich hinter Kursivdrucken zuweilen auch Verlinkungen verbergen.)
Dieser letzte Aspekt hängt eng mit seinem Hauptkritikpunkt zusammen: einem auf Kosten der Analyse und Bewertung von Form und Stil eines literarischen Kunstwerkes wachsenden »Inhaltismus«. Der Wegfall typologischer Markierungen und das digitale Setting verstärke in Zeiten von Social Media und Hate Speech die Tendenz zur mitunter wertungsfreien Zusammenfassung von Inhalten unter Verzicht auf literaturwissenschaftlich fundierte Argumentationen. Doch gerade diese basalen Analysen sind die ›Basics‹, auf die es Wiele im Rezensionshandwerk ankommt. Diese Quintessenz seines Vortrags ließ er schon auf das Plakat drucken, mit dem der Abend beworben wurde:
Gegenstand von Wieles Überlegungen sind auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Medien, wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dem Onlinejournalismus – beziehungsweise das Verschwinden der Literaturkritiken aus Radio und Fernsehen. Im Zuge dessen blickt er auf die Geschichte der Literaturkritik mit ihren charakterstarken Köpfen wie Marcel-Reich-Ranicki oder Sigrid Löffler zurück und gibt zu bedenken, dass zwischen diesen und den akademisch-geisteswissenschaftlichen Kreisen einst große Streitigkeiten herrschten, während der Austausch heute zwar sehr gelassen verlaufe, Wiele zufolge aber fundierter sein könnte. Dass es weniger Streits gibt verwundert angesichts Wieles Ausführungen zur schwindenden Güte der Literaturkritik geradezu – müssten die Literaturwissenschaftler:innen nun nicht öfter auf die Kritiker:innen schimpfen?
Onlinekritiken als Verzerrungen der Wirklichkeit
Im Rückblick auf die von ihm erläuterten formal-ästhetischen und inhaltlichen Verflachungen der Literaturkritiken im Netz, in Folge derer die Romanvorlage für den Film Schindlers Liste zum Beispiel als Strandlektüre empfohlen werde, reißt Wiele schließlich etwas an, das zunehmend in Vergessenheit zu geraten scheint: Die Künste und die Literatur im Besonderen seien kultur- und sozialwissenschaftlich in ihrer Funktion als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen für die Mehrheit der gesellschaftlichen Diskurse hochrelevant. Deshalb wünsche er sich ausdrücklich, dass Rezensent:innen, ausgebildete Literaturwissenschaftler:innen, regelmäßig um ihrer kultur- und sozialwissenschaftlichen Expertise Willen als Gäst:innen in Talkshows eingeladen oder in anderen Kontexten zu gesellschaftlichen Geschehnissen und Entwicklungen zu Rate gezogen würden. Detering arbeitet diesen wichtigen Punkt der Einmischung in Diskurse im späteren Gespräch noch einmal besonders heraus.
Diese Verknüpfung von Argumenten erklärt Wieles Abneigung gegen digitale Literaturkritiken, insbesondere jene von ungelernten Verfasser:innen. Denn eine Literaturkritik im eigentlichen Sinne, so erklärt er an die Studierenden gewandt, sei ein ästhetisches Werturteil auf Basis literaturwissenschaftlichen Wissens. Gespräche im Nachgang ergaben, dass mit Blick auf das Seminar, das zur Dozentur gehört, bei den Studierenden die Frage blieb, ob Wiele eine generelle Aversion gegen die Verbreitung literaturkritischer Inhalte via Social Media hegt. Könnte er seine Position als Gastdozent nicht auch konstruktiv nutzen und die Studierenden dazu ermutigen, ihre fachliche Expertise – erlangt durch das literaturwissenschaftliche Studium, die regelmäßige Lektüre von Kritiken und auf die Praxis fokussierte Kurse wie das durch ihn unterrichtete Seminar – dafür einzusetzen, um literaturkritische Inhalte entsprechender Güte in diversen digitalen Formaten zu teilen oder selbst zu generieren?
Beschleunigte Verurteilung im Internet
Von der Definition der Rezension als ästhetischem Werturteil leitet Wiele allmählich in den zweiten hoffnungsvoll-appellativen Teil seines Vortrags über. Dabei verweist er auf den kürzlich erschienenen Essay-Band Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang von Maggie Nelson, in dem die Autorin dazu aufruft, mehr gesellschaftlich-demokratische (Meinungs-) Freiheit zu schaffen, in dem die Aufmerksamkeit und Sensibilität in der Kommunikation miteinander und insbesondere in öffentlichen Debatten geschärft wird. Dieser Exkurs blieb etwas diffus, lässt sich vielleicht mit Rückbezug auf den Anfang von Wieles Vortrag besser einordnen: Wo schnell von Hate Speech die Rede ist, sind auch geübte Kritiker:innen womöglich zurückhaltender in ihrer Meinungsäußerung. Denn auch wenn ihre Rezensionen begründete Werturteile sind, werden sie von der breiten Masse wohl nicht mehr als solche anerkannt.
Göttinger Literaturherbst 2022
Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.
Schließlich wendet er sich insbesondere an das studentische Publikum und sieht dabei auch eine Chance in niedrigschwellig zugänglichen Literaturkritikforen wie Perlentaucher oder studentischen Literaturkritikmedien wie Litlog: Die Zusammenfassungen der Feuilletons im Perlentaucher könnten den Nachwuchskultur- und Literaturwissenschaftler:innen helfen, einen Zugang und Überblick über die literarischen Diskurse der Gegenwart zu gewinnen und das Engagement in studentischen Magazinen dazu ermutigen, erste Schritte zu gehen, also sich aus wissenschaftlicher Perspektive heraus das Handwerk der Rezension anzueignen und selbst zu erproben.
Polemisch oder ungerechtfertigt?
Sein Aufruf an die Studierenden, sich aus bloßem Interesse und zur Horizonterweiterung unabhängig von zu erbringenden Prüfungsleistungen in zusätzliche Seminare oder Vorlesungen zu setzen, das Studium wenn möglich zu verlängern – auch wenn man dafür arbeiten muss – ist eine sehr romantische Argumentation aus einer privilegierten Position heraus, die bei vielen Studierenden einen wunden Punkt trifft: Auch bei vollen BAföG-Bezügen sind die Lebenshaltungskosten der wenigsten Studierenden in Deutschland heute noch abgedeckt – und wenn die Bezüge wegfallen und eine Vollzeittätigkeit ausgeübt werden muss, schreibt sich eine Abschlussarbeit – die ja eben erst zum Schluss geschrieben werden kann – schlecht nebenbei. Zugleich bleibt die implizierte Behauptung, Studierende heutzutage würden zu wenig lesen und zu wenig interessiert studieren, reichlich generalisierend und damit weit von der Realität entfernt.
Auch mit seiner polemischen Darstellung, Studierende seien hinsichtlich zeitgenössischer literarischer Diskurse uninformiert, trifft Wiele einen Nerv. Denn zum einen lässt die Verschulung und damit verringerte Wahlfreiheit und erhöhte Prüfungslast des Studiums weniger Gestaltungsfreiräume und Freizeit als zu Diplomzeiten und zum anderen ist auch hier Information – wie Herr Wiele selbst in seiner Argumentation mit Blick auf die Konkurrenz der Medien untereinander bemerkte – mitunter eine Frage der finanziellen Mittel. Zu Hochzeiten der Pandemie war eine Zeitungslektüre ohne eigenes Abo zum Beispiel unmöglich, weil die Bibliotheken geschlossen waren – und danach waren solche Auslagen mancher Orts ausgesetzt. Auf diese Hürde zielt auch die einzige von einem Studenten gestellte Frage in der sich an den Vortrag anschließenden Diskussionsrunde ab – und Wiele konnte nur bestätigen, dass die FAZ das Feuilleton leider noch immer nicht separat und günstiger als die Zeitung als Ganze herausgebe, wodurch sie für die Mehrheit der Studierenden als Einzelne unerschwinglich bleibe. Darauf ging Wiele nicht weiter ein.
Wiele hat Recht – zu studieren ist eine wertvolle Chance. Dass dabei mitunter zweifelhafte Priotitäten gesetzt werden und diese Chance fast vertan erscheint, ist ebenfalls zutreffend. Allerdings ist es fragwürdig, das einfach als genuines Desinteresse der über einen Kamm gescherrten Studierenden auszulegen. In jedem Fall ist es Ausdruck der gesellschaftlichen Fokussierung auf Effizienz und Symptom für die strukturelle Not vieler Studierender (siehe oben). Wie schön wäre es gewesen, wenn der Redakteur seine Position dazu genutzt hätte, diese, ein interessengeleitetes Studium erschwerenden Aspekte zu kritisieren oder nach ihnen zu fragen, anstatt auf Basis von Halbwissen über das Studium seit der Bologna-Reform (es entsteht zu Weilen der Eindruck, dass der Nürnberger Trichter hier noch Gültigkeit hat) und Vorurteilen die vermeintlich faulen Studierenden zu noch mehr Mehrarbeit in zumeist prekären Bezahlverhältnissen zu ermutigen. Auf die gesellschaftliche Bedeutung der Geisteswissenschaften immerhin, ging Wiele am Beispiel der Literaturkritik ein (an ihnen wird gerade auch in Göttingen viel gespart – ). Vielleicht haben die Nöte der Literaturkritik und der Studierendenschaft strukturell mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick anzunehmen gewesen wäre.
Was bleibt von den ›Basics‹ bleibt
Detering ergänzt im abschließenden Gespräch Beispiele aus seinem Erfahrungskontext, wobei er wesentliche Aspekte des Vortrags präzisiert. Vielfach werden diese Aspekte als überraschend geschlossene Fragen an den Gast formuliert. Dieser antwortet zunächst bloß mit Zustimmung, bevor er doch etwas mehr aus sich herauskommt. So ist die Diskussion eher eine Reflektion und Unterfütterung des Vortrags mit praktischen Beispielen. Dennoch resümiert das Schlussgespräch die komplexen Zusammenhänge, die Wiele in seiner Eröffnungsvorlesung skizziert hat, und insbesondere die dabei herausgearbeitete gesellschaftliche Bedeutung von (Literatur-) Kritik übersichtlich. Wieles im Gespräch tiefergehende Ausführungen zur Politisierung der literaturwissenschaftlichen Diskurse und dazu, wie er selbst über diese Entwicklung seine Meinung stetig revidiere, sowie die Reflektion strukturell-ökonomischer Schwierigkeiten im Journalismus, geben weitere Aspekte zum Nachdenken mit auf den Weg. Abschließend merkt Wiele selbst noch an, dass die polemisierende Art seiner Positionen überraschend ruhig aufgenommen worden sei, dass er einiges sicher verkürzt dargestellt habe und auf tiefgehende Diskussionen in dem Seminar, auf das er sich freue, hoffe.
Mareike Röhricht ist Hilfskraft in der Abteilung Komparatistik und an der Organisation der Antrittsvorlesung beteiligt.