Triggerwarnung: Der folgende Text beinhaltet Beschreibungen von Suizidgedanken. Die Abschnitte mit entsprechenden Zitaten werden im Fließtext abgesetzt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest du Beratungs- und Hilfsangebote bei der TelefonSeelsorge Göttingen, bei der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende der UMG oder der Deutschen Depressionshilfe.
Mit Tick Tack gelingt es von Julia von Lucadou, eine zeitgenössische Geschichte zu schreiben, die Probleme der sozialen Medien aufgreift. Die Auswirkungen dieser Probleme auf die beiden Protagonist:innen sind glaubhaft geschildert, der moderne Schreibstil sorgt beim Lesen aber auch für Schwierigkeiten.
Von Charline Rekewitsch
Als im Jahr 2016 die von dem chinesischen IT-Unternehmer Zhang Yiming entwickelte Plattform Musical.ly auf den Markt ging, hätte niemand damit gerechnet, dass sie bald zu einer der beliebtesten und erfolgreichsten Plattformen der ganzen Welt aufsteigen sollt: Aus Musical.ly wird TikTok – eine App, die in der heutigen Zeit vor allem bei Influencer:innen und Mitgliedern der Generation Z nicht mehr wegzudenken ist und es möglich macht, kurze Videos von sich oder anderen hochzuladen und dadurch in Kontakt mit Menschen aus der ganzen Welt stehen zu können. Doch der ständige Kontakt mit anderen und das Bedürfnis, aus der breiten Masse herauszustechen, viral zu gehen, hat auch seine Schattenseiten. Denn in der Öffentlichkeit stehen bedeutet, sich dem Urteil anderer auszusetzen. Hass und Hetze sind dabei keine Seltenheit. Aber auch der Drang, sich aus der Masse hervorzuheben, kann negative Nachwirkungen mit sich ziehen, da Betroffene beinahe alles dafür tun, um herauszustechen und mehr Aufmerksamkeit und Follower zu erlangen.
Triggerwarnung: Suizidgedanken
So auch die 15-jährige Mette aus dem Roman Tick Tack von Julia von Lucadou. Enttäuscht und frustriert vom Leben und der Tatsache, dass sich ihre beste Freundin immer mehr von ihr entfernt, legt sie sich für einen Suizid-Versuch auf Bahngleise. Zuvor kündigt sie ihren Tod auf TikTok an. Doch dann wird sie in letzter Sekunde von den Gleisen gezogen und sieht sich auf einmal gewaltigem TikTok-Ruhm gegenüber. Allerdings ist dieser nicht von Dauer und lässt die anfänglichen Probleme nicht verschwinden. Stattdessen scheinen sie sich noch zu verschlimmern, als Mette auf den zehn Jahre älteren Jo trifft und dieser ihr dabei helfen will, dauerhaftes Ansehen im Netz zu erlangen.
Hier endet die konkrete Beschreibung.
Zwei Perspektiven, ein moderner Schreibstil
Julia von Lucadou
Tick Tack
Hanser Berlin: Berlin 2022
256 Seiten, 23,00€
Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: zum einen aus der Sicht der Protagonistin Mette und zum anderen aus der Sicht von Jo, die sich in ihrer Gestaltung deutlich voneinander unterscheiden. Dabei werden die Anfänge von Mettes Kapiteln mit einer Abbildung ihrer Follower-Zahlen und Likes auf TikTok verziert. Diese stehen stets im Bezug zum Verlauf der Geschichte. Die Kapitel von Jo hingegen unterscheiden sich insofern von Mettes, als sie dem Aufbau nach eher Kommentaren und Forenbeiträgen ähneln und somit nicht den typischen Textformat eines Romans entsprechen.
Diesen zeitgenössischen Bezugspunkt findet man allerdings nicht nur in der Gestaltung der Kapitel, sondern auch im Schreibstil der Autorin. Sie verwendet einen jugendhaften Stil, wodurch es beim Lesen immer wieder den Anschein macht, als lese man verschiedene Social-Media- oder Forenbeiträge. Dabei verwendet sie eine Vielzahl an modernen Ausdrücken oder Anspielungen, die hauptsächlich Millenials und der Generation Z vertraut und somit nicht für jede:n verständlich sind. Für Leser:innen, die dieses moderne Vokabular nicht verstehen, könnte das den sonst angenehmen Lesefluss stören.
Kritik an den Medien
Die Protagonist: innen-Konstellation übt Kritik an den sozialen Medien und deren Auswirkungen auf einzelne Personen. Beide sind durchweg von den sozialen Medien eingenommen und erscheinen dadurch nicht gerade sympathisch. Vor allem Jo sammelt keine Pluspunkte, sondern macht sich mit seinen Gedanken, die voller Hass sind, und seinem manipulierenden Verhalten gegenüber seiner Familie und auch Mette nur unbeliebter. Bei Mette hingegen gibt es wenige Momente, in denen sie versucht, sich nicht zu sehr von Jo und den sozialen Medien kontrollieren zu lassen. Dennoch dominieren ihr unfreundliches Verhalten gegenüber Familie und Freunde:innen sowie ihre Denkweisen, die vor allem ihren Frust gegenüber der Welt zum Ausdruck bringen.
Jo manipuliert Mette und macht sich ihren Wunsch, mehr Aufmerksamkeit in den sozialen Medien zu erlangen, zunutze, um sie für seine Zwecke benutzen zu können. Er ist ein Rassist und Manipulator, der seine eigenen Unsicherheiten gegenüber der Welt und seinen Leben in Wut und Frust umwandelt. Auch in den sozialen Medien macht sich dies bemerkbar, da er beispielsweise ein Querdenker und Unterstützer verschiedener Verschwörungstheorien ist. Mette baut er als Schlüsselfigur einer neuen Querdenker-Bewegung auf, während er sich und seine Identität im Verborgenen hält und Mette sich mit den resultierenden Hassnachrichten auseinandersetzen muss.
Doch durchlebt Mette zum Ende des Romans eine positive Entwicklung und kann sich damit von Jos manipulativen Verhalten befreien – damit geht es jedoch etwas zu schnell. Die Handlung wird am Ende zu schnell abgehandelt, was die Charakter-Entwicklung nicht überzeugend wirken lässt.
Ein zeitgenössischer Roman
Die zum Anfang genannten Themen rund um die Anerkennung und den Wunsch nach Aufmerksamkeit in den sozialen Medien wird damit vor allem durch die Protagonistin Mette zum Ausdruck gebracht. Aber auch die Probleme eines typischen Teenagers, der erstmal seinen Platz in der Welt und sich selbst finden muss und dabei nicht immer den richtigen Umgang und Weg wählt, werden durch Mette thematisiert. Durch das Aufgreifen von Themen wie der Corona-Pandemie, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und verschiedenen Verschwörungstheorien, wird abermals ein zeitgenössischer Bezug geschaffen – von Lucadou gelingt es damit, eine zeitgenössische Geschichte zu verfassen, die die Probleme der heutigen Zeit gut widerspiegelt und zeigt, wie leicht es sich in den Drang nach Aufmerksamkeit und dem entsprechenden Ideal, das die sozialen Medien vorgeben, zu verlieren.