Die Stille kligt am lautesten

Ein Sommer, vier Liebesgeschichten. Facettenreicher könnte der französische Nationalfeiertag des 14. Juli 1999 nicht ausgeschmückt sein. Der französische Bestsellerautor Grégoire Delacourt vereint in Die vier Jahreszeiten des Sommers vier Kurzgeschichten zu einem Thema und lässt seine LeserInnen dabei in verschiedene Lebensphasen eintauchen. Ein Roman über die Liebe in jedem Alter.

Von Mareike Grebe

Bild: Wildblumenwiese via wikimedia / CCO

Am Strand von Le Touquet in der Nähe von Calais wird die Liebe nicht nur von jeder/m der ProtagonistInnen unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch in jedem Lebensalter anders gelebt. Gefühle verändern sich, das Schicksal schweißt Menschen zusammen. Es sind Altersabstände von etwa 20 Jahren, die zwischen den jeweiligen Hauptfiguren liegen. Sie begegnen sich ab und an eher zufällig, kennen sich aber nicht. Individuelle Lebensabschnitte, vielschichtige Gefühlswelten und Arten zu lieben werden Eins an diesem letzten 14. Juli des Jahrhunderts ─ dort laufen alle Handlungsstränge zusammen. Dass die Liebe in jedem Alter eine andere Ausprägung hat, unterstreicht Delacourt durch variierende Blumensorten, die mit ihren spezifischen Bedeutungen jeweils stellvertretend einem Kapitel zugeordnet sind ─ im Grunde ein literarisches Herbarium.

Trotz der augenscheinlichen Unbeschwertheit des Titels und des sommerlichen Buchcovers, was vorerst auch auf eine Unbekümmertheit der Handlung schließen lässt, ist dieser Roman keine einfache Sommerlektüre. Man erwartet die Beschreibung des Sommers, Sand und Meer. Soweit werden die Erwartungen erfüllt. Aber die Gefühle der ProtagonistInnen weichen von dieser vermuteten Leichtigkeit ab. Vielmehr beschreibt Delacourt mit Schwermut die Vergänglichkeit von Liebe und Gefühlen, den Tod von geliebten Menschen, Trennungen und Schmerz. Auf diese Weise lässt er die Romanhandlung in einem tristen Licht erscheinen.

Da ist beispielsweise Louis, ein 15-jähriger Junge, seine ihm zugeordnete Blumensorte ist die Pimpernelle (Bedeutung: Du bist meine einzige Liebe). Mit der akribischen Darstellung seiner Gefühle lässt er die LeserInnen an der Vergänglichkeit seiner ersten großen Liebe Victoria teilhaben.

Und wie man es von Sterbenden erzählt, ließ ich unser kurzes Leben an mir vorüberziehen: die Versprechen, die Kinderängste, die im Heranwachsen zum Begehren wurden, das Lachen, so leicht wie verliebte Körper, all die Träume, die ich allein für zwei träumte.

Louis übernimmt die Weisheit seiner Mutter, dass auch Liebeskummer eine Form von Liebe sein kann und das ist wohl die Essenz der ersten Jahreszeit des Lebens.

Doch auch mit Mitte 30 noch verschwindet Liebeskummer als schmerzhaftes Pendant der Liebe nicht. »Ich war fünfzehn und träumte bereits davon, aus Liebe zu sterben. Ich hatte nie viel Glück mit den Männern.« Das Leben von Isabelle ist von Unzufriedenheit und Schmerz geprägt, was die in die Erzählung integrierte und stark mit Dornen besetzte Rosenart Eugénie Guinoisseau repräsentiert. Isabelles große Liebe ist inzwischen glücklich verheiratet. Sie selbst jedoch ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes, dessen Vater sich von ihr getrennt hat. Einsam und verlassen, hat sie die Hoffnung auf die eine große Liebe aufgegeben.

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Grégoire Delacourt
Die vier Jahreszeiten des Sommers

Hoffmann und Campe 2016
192 Seiten, 18,00€

Ganz im Gegenteil zu Isabelle möchte Monique wieder Glück und Leidenschaft spüren. Die Lieblingsblume Moniques ist die Hyazinthe, so lautet auch das entsprechende Kapitel. Monique ist auf der Suche nach ihrem alten Ich, der Sinnlichkeit und des Enthusiasmus, nach allem, was ihr Leben vor der Hochzeit prägte.

Ich werde die Blasen des Champagners auf meiner Zunge und an meinem Gaumen perlen lassen; sie bilden Buchstaben, formen einen Satz, der mir zuflüstert, dass ich noch hübsch und begehrenswert bin. Dass man mich noch umarmen kann ─ seit einigen Jahren hat mein Mann Zweifel daran aufkommen lassen.

Einer nüchterneren Formel entspricht ein um die 80 Jahre altes Ehepaar:

Wir haben nie von Liebe gesprochen. Es war ein Wunder, dass wir die Kriegsjahre überlebt hatten, dass wir davongekommen waren und uns wiedergefunden hatten. Das war unser Liebesband.

Das Kapitel Rose gibt Rückblicke auf die gemeinsame Arbeit und Vergangenheit in einem Blumenladen. Die Hochzeit und die Jahre des Krieges, die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter und der plötzliche Kindstod ihres Sohnes hielten das Paar eng zusammen. Das Schicksal hat beide zusammengeführt. Und lebensmüde möchten sie nun auch gemeinsam sterben.

Stets begleitet werden die vier Jahreszeiten des Lebens vom melancholischen Song Hors Saison Francis Gabrels, der den Schmerz hinter allen Biographien zusätzlich unterstreicht. Eine Zeile davon: »Die Stille hört man am lautesten«. Man hört sie am lautesten, wenn man als 15-jähriger, ausgelöst durch Liebeskummer, davon ausgeht, nie wieder lieben zu können. Als 35-jährige, von seinem Partner verlassen, alleinerziehend, orientierungslos ‒ und kurze Zeit später verstirbt zudem Isabelles geliebte Mutter. Als Frau Mitte 50, wenn die Kinder ausziehen, die Beziehung zum Partner wortlos bleibt und Sinnlichkeit etwas Vergangenes ist. Und schlussendlich als 80-jähriges Ehepaar, das den Lebensmut verloren hat und sich sehnlichst den gemeinsamen Tod herbei wünscht.

Eine innere Verbindung zu den Figuren stellt sich bei LeserInnen ein, weil die ein oder andere Gefühlswelt bekannt scheint. Stets aber schwingt auch ein Hauch Kitsch mit, der teilweise die Ernsthaftigkeit der Geschichten gefährdet. Die Handlungsstränge werden mithilfe von Chansontexten, übermäßiger Sentimentalität und Metaphorik übertrieben unterstützt, was es nicht gebraucht hätte, um den Erzählungen Authentizität zu verleihen. Menschliche Dramen, Unzufriedenheit und Melancholie reihen sich nahezu aneinander. Am Ende steht dann die ernüchternde Bilanz: Letztlich gibt es nur eine einzige wahre Liebe im Leben eines Menschen. Ausnahmen, in denen mit zwei oder mehr ›großen Lieben‹ gehandelt wird, sucht man in diesem Text leider vergeblich. Aber vielleicht ist es auch gerade das, was diese Lektüre recht anziehend macht: die konventionelle Vorstellung davon, dass im Leben ein Mensch allein einem anderen alles ist, was er braucht. Und die Gewissheit, dass das wirkliche Leben meist anders verläuft als man es plant.

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