»Die Gegenwart nicht zu wollen, muss bedeuten, der Zukunft eine Chance zu geben.« Die langweilige Literatur soll der Vergangenheit angehören. Das Mittel dazu weiß Leonhard Hieronymi: Romantik und Science-Fiction. Mit futuristischen Effekten prescht die Ultraromantik vor. Reizvoll – und doch zu zahm.
Von Felix Keutel
Bild: FelixMittermeier via pixabay / CCO
»Manifeste wollen die Schwere der Erde aufheben.« Zu dieser Erkenntnis kam der Dadaist Raoul Hausmann angesichts der Masse an Manifesten, die in seiner Epoche kursierten. Damals gab es gefühlt mehr Kunstbewegungen als Künstler, und jede hatte eigene Vorstellungen, die sie nicht selten im kompakten Format des Manifests auf den Punkt brachten. Die Zeiten der großen Bewegungen sind augenscheinlich lange vorbei, zwar gibt es auch heute noch Manifeste, allerdings keine großen Gefolgschaften. Im kleinen Korbinian-Verlag aus Berlin kam nun ein Büchlein heraus, das Änderung schaffen will. Seine Agenda heißt: Ultraromantik.
Leonhard Hieronymi
ULTRAROMANTIK
Korbinian Verlag 2017
96 Seiten, 12€
Leonhard Hieronymi, der bisher im Umfeld des Literatur- und Popmagazins Das Wetter in Erscheinung trat, will mit seinem Manifest der Ultraromantik vielleicht nicht gleich die Schwere der gesamten Erde aufheben, jedoch die der deutschen Literatur. Lethargisch, langweilig und träge sei diese, unterjocht von einem Regnum der Tristesse, wo ein »inoffizielles Ekstaseverbot« vorherrscht, das alle Leidenschaft, alle Freude und allen Spaß im Lande unterdrückt. Da muss doch was getan werden, dachte sich Hieronymi.
Leichtigkeit muss her, schreibt er, Lebendigkeit, Rausch, Gefühle, Neugier, Sehnsucht, Schnelligkeit, das alles muss her, der unerträglichen Schwere zu entkommen. Was bietet sich da mehr an, als die Schwerkraft gleich selbst aufzulösen? Und so fordert er eine neue Sehnsucht, deren Objekt eben nicht mehr die Ferne eines vernebelten Horizonts hinter einer Bergkette sein kann. Nein, ihr Ziel liegt genau darüber: im Weltraum.
Waldesrauschen und Meteorenstürme
Hieronymis Antwort auf den trägen Zustand der Literatur ist eine Mischung aus Romantik und Science-Fiction. In 20 Aphorismen, einer anschließenden Erklärung und einer Liste maßgebender Werke aus Literatur, Film und Musik legt er zunächst sein Konzept der Ultraromantik dar, bevor er zwei Erzählungen präsentiert, die auch sein Debut als Schriftsteller darstellen.
Was also ist die Ultraromantik? In dem Büchlein, dessen Kapitelüberschriften übrigens sehr schön gestaltet sind und an eine moderne Aufbereitung frühneuzeitlicher Druckgestaltung erinnern, in diesem bibelschwarzen Büchlein steht geschrieben: »Die Ultraromantik ist die romantische Variante des Cyberpunk«, in ihr sollen »Mensch, Gefühl und Natur romantisch, die Handlung futuristisch und wahr« sein. Was genau das heißen soll, wird anhand dreier – recht willkürlich daherkommender – Figurentypen gezeigt.
Als Personifikation der langweiligen Gegenwartsliteratur muss der »Retardari« einstehen, der durch Resignation und Leidenschaftslosigkeit gekennzeichnet ist. Der »Commuter« dagegen stelle eine Übergangsfigur dar, die in einer dystopischen Welt zwischen zynischer Kälte und drängender Sehnsucht changiert, und so den ersten Schritt zum Ideal geht. Dieses Ideal verkörpert der ultraromantische »Profectus«, der mit Abenteuerlust und Schwärmerei an den Taugenichts Eichendorffs erinnert und neugierig die fantastische Welt der Zukunft bestaunt.
Dann hebt er ab…
Auch wenn diese Dreiteilung in ihrer Konstruiertheit an den Haaren herbeigezogen ist, ergibt sich trotzdem ein gewisser Reiz: Denn besonders erfrischend ist hier der Ansatz eines positiven Zukunftsbildes. Hieronymi fordert ein Staunen über die Wunder ferner, vor uns noch liegender Zeiten – ein gutes Gegenbild zur Schwarzmalerei, die nach dem Untergang der Idee auch nur irgendeiner Utopie mittlerweile selbst schon zu einem Klischee verkommen ist. Zwar tauchen auch Dystopien auf, doch nicht als Hintergrund für eine pessimistische Apokalyptik, sondern für eine inspirierende »Wehmut nach Unsterblichkeit und Unendlichkeit; der Unendlichkeit des Raums und der Unendlichkeit des Fortschritts, der Unendlichkeit des Abenteuers und des Neuen«.
Allerdings macht es sich Hieronymi zu leicht. Wer neben »Lebendigkeit, Action, Poesie und Fun« auch »Wagnisse« verlangt – und sich damit, erfreulicherweise, implizit gegen eine Poesie der Glätte ausspricht –, darf Widerspruch nicht scheuen. Trotzdem geht er auf Nummer sicher. Die Romantik und Science-Fiction, die doch Grundlage seiner ganzen Ausführungen sein sollen, sind, sagt er, nicht wirklich maßgebend, sondern lediglich »eine doppelte Metapher«. Dieser Akt der Absicherung ist jedoch entlarvend.
Auf dem Boden der Tatsachen
Eine Beschäftigung mit der Romantik erfolgt nämlich erst gar nicht, dominierend ist klar die Science-Fiction. So enthält auch die bereits erwähnte Liste mit den maßgebenden Werken nur Titel vom Jahre 1970 bis heute.1 Die Romantik selbst wird auf das ›wahre Gefühl‹ reduziert und dient lediglich als Anstrich einer futuristischen Kulisse. Hat die klassische Romantik sich noch mit der Philosophie beschäftigt, um sich daran zu reiben und ihre eigene Poetik zu begründen, bleiben hier die Ausführungen bei einer betonten Naivität stehen und verweilen in ihrer eigenen Sphäre.
Überhaupt scheut Hieronymi die Auseinandersetzung. Die vage Gegnerschaft, die ›langweilige Gegenwartsliteratur‹, ist ein farbloses Feindbild, ein harmloses Gespenst, das kaum die Handbewegung wert ist, es zu verscheuchen. Hat im Jahr 1909 der Italiener Marinelli in seinem Manifest des Futurismus mit der provokanten Aufwertung von Gewalt, Maschinen und Massenbewegungen sich noch gegen alles Bisherige, die ganze Tradition wagemutig aufgebäumt, ist die Provokation Hieronymis gegen eine langweilige Literatur schlichtweg keine, da sie keinen Widerstand erzeugt: Jeder ist gegen langweilige Literatur. Auch hier macht er es sich zu einfach und erfährt so Einbußen an notwendiger Sprengkraft.
Wie sieht es nun mit seinen eigenen beiden Erzählungen aus? Das Prädikat »ultraromantisch« gibt Hieronymi nur einer. Deren langer, schwieriger Titel lautet: Formalin. Die psychische Möglichkeit des Lebens in der Vorstellung eines Toten.
Ein Sarg für Damien Hirst
Als Erfüllung eines Literaturprogramms enttäuscht die Erzählung, muss im Grunde auch enttäuschen, nach einem solchen großen Überbau. Allerdings: Schüttelt man die aufgebauten Erwartungen ab, so liest es sich recht vergnüglich.
Der Titel ist eine Anspielung auf ein bekanntes Werk Damien Hirsts, um den es auch in der Erzählung geht. In einer nicht allzu fernen Zukunft erhält der Protagonist, ein Metallarbeiter, den Auftrag, zusammen mit einem englischen Kollegen den Sarg des verstorbenen Hirst zu bauen. Ein kleines Attentat im Sinn, begegnen sie nachts in der Lagerhalle, wo der Sarg verweilt, einer geisterhaften Erscheinung. Das Ende steht – um nicht zu viel zu verraten – programmatisch im Zeichen eines Siegeszuges der Unsterblichkeit über den körperlichen Tod.
Die Atmosphäre beim ersten Besuch der abgedunkelten Lagerhalle noch lange vor dem Attentat, wo der zerstückelte Leichnam Hirsts von Mitarbeitern im bläulichen Formalin präpariert wird, schildert Hieronymi gekonnt, etwa in dem Bild, dass die Aufregung der Leute »im gedämpften Raum unnatürlich« wirkt »wie ein zartes Ballettstück ohne Musik«. Den Einfluss Krachts merkt man einigen amüsanten Stellen der Erzählung an, so z. B., wenn der Protagonist mit seinem Kollegen aufs Land hinausfährt und gänzlich unvermittelt mutmaßt: »Er wollte mich bestimmt nicht vergewaltigen. […] Und wenn, dann hätte er mir das einfach sagen können«. Daneben gibt es einige nervige Stellen. So imitiert der Protagonist am Anfang, als er die Nachricht vom Tod Hirsts erhält, grundlos einen Verrückten und rennt wie ein Bekloppter im Baumarkt herum; an einer Stelle sagt der englische Kollege sinnlos: »Ich kann ein bisschen fliegen, und ich glaube, ich kann ein bisschen durch die Ohren atmen jetzt«.
Da Hieronymis Manifest der Ultraromantik kaum wehtut, ist es schwer, dem Unterfangen kein Wohlwollen entgegenzubringen. Für ein Manifest fehlt hier die Radikalität, um wirklich ins Mark zu treffen, die Thesen geben sich innovativ und provokant, sind aber tatsächlich sehr milde und gefällig. Der Text ist ein Versuch, der Komplexität der Verhältnisse mit Naivität zu begegnen, oder besser gesagt, zu entkommen: Die »Schwere der Erde« wird nicht aufgehoben, sondern ausgeblendet. Hieronymis Erzählungen zeigen mehr Potential. Als Endpunkt und Erfüllung des Manifests jedoch halten sie dem Druck der angestauten Erwartung nicht stand und müssen, ausschließlich diesem Aufbau geschuldet, zwangsläufig enttäuschen. Dem Autor kann nur gewünscht werden, er werde weiterhin sein Talent für Bilder und Humor kultivieren, störende, nur um der Verschrobenheit Willen getätigte Ausfälle zukünftig jedoch beiseite lassen. Ein ausgefeilter Erzählband ohne großes Drumherum wäre willkommen, dann trüge sich alles auch ganz von selbst, ohne große Erklärungen.