Clownfische, Hummer, Menschen

Wie fühlt es sich an, sich seiner eigenen Geschlechtsidentität nicht mehr sicher zu sein? Und was, wenn man weder männlich noch weiblich ist? Das versucht Charlie in einer neuen ZDF-Neo-Serie herauszufinden. Eindrücklich beschreibt Produzent:in Lion H. Lau – selbst nichtbinär – den steinigen Weg zur Selbstfindung.

Von Lilly Krka

Bild: ZDF / Tatiana Vdovenko

»Und wieder gehen die GEZ-Gebühren für Unsinn dahin«, »Was für ein lächerlicher Schwachsinn« und »Als ob es keine ernsthaften Probleme gibt«. So reagierten viele Instagram-User:innen auf den Ankündigungspost des Queerspiegel zur neuen ZDF-Neo-Serie Becoming Charlie. In sechs Folgen mit insgesamt circa 120 Minuten wird versucht, darzustellen, was eigentlich ein langwieriger Prozess ist: Charlie möchte seine Geschlechtsidentität herausfinden. Vögel, Clownfische, Hummer – alle diese Tiere können mehr Geschlechter haben als bloß männlich oder weiblich. Das erklärt Charlies Freund Mirko. Können wir Menschen das auch?

Charlie ist Anfang zwanzig und lebt mit seiner Mutter Rowena in einer Plattenbausiedlung. Probleme gibt es so einige: Mal geht es der Mutter super, dann liegt sie wieder depressiv im Bett, Rechnungen werden nicht bezahlt, Charlies heimliche Liebe ist verheiratet und schwanger – da bleibt eigentlich nicht mehr viel Platz, die eigene Identität zu hinterfragen und trotzdem kann Charlie die drängenden Zweifel nicht ignorieren. Nach der Begegnung mit Maya, die ihn nach seinen Pronomen fragt, kommt Charlie das erste Mal in den Sinn, männlich angesprochen werden zu wollen.

Becoming Charlie

Deutschland 2022
1 Staffel, 6 Folgen
Regie: Kerstin Polte
Buch: Lion H. Lau
Mit: Lea Drinda, Danilo Kamperidis, Aiken-Stretje Andresen, und anderen

Doch »ein Typ« ist er1Nachdem Charlie sich für die Pronomen ›er/ ihn‹ entschieden hat, wird dieses Thema in der Serie nicht weiter besprochen. Deshalb wird er hier trotz seiner nichtbinären Identität mit männlichen Pronomen besprochen. Nichtbinäre Menschen nutzen eine Vielfalt an Pronomen; diese müssen – wie hier – auch nicht ›geschlechtslos‹ sein. ja auch nicht; aber was soll er denn sonst sein? Im Laufe der Serie versucht er, darauf eine Antwort zu finden und stößt schließlich auf den Begriff ›nichtbinär‹: eine Sammelbezeichnung für alles, was eben nicht einfach männlich oder weiblich ist. Produzent:in Lion H. Lau identifiziert sich selbst als nichtbinär und hat mit Becoming Charlie die erste Serie über eine nichtbinäre Hauptfigur in der deutschen Fernsehlandschaft geschaffen.

Der Prozess, Charlie zu werden

Seine Gefühle fasst Charlie immer wieder in Rap-Texten zusammen: »Ich finde mich nicht wieder in der Welt da draußen; ich finde nicht mal Worte für das, was ich fühle«. Dass es niemandem mehr so gehen muss, dafür kämpft die queere Community seit Jahrzehnten. Serien wie Becoming Charlie können für gesellschaftliche Aufklärung sorgen und die ›breite Masse‹ sensibilisieren. Wichtig für die Serie ist vor allem, dass Charlies Figur nicht eindimensional ist – er hat auch andere Probleme als seine Geschlechtsidentität. Dem Vorurteil, nichtbinäre Menschen hätten einfach ›keine anderen Probleme ‹ und ›zu viel Langeweile‹, wird durch seine schwierige familiäre Situation und den finanziellen Druck entgegengewirkt.

Nebenbei macht Charlie jedoch auch Erfahrungen, die für jede nichtbinäre oder trans* Person essenziell sind. Schon zu Beginn lassen sich Anzeichen seiner Körperdysphorie erkennen. So wird das Gefühl genannt, wenn die körperlichen Geschlechtsmerkmale nicht zu der Identität einer Person passt. Durch seine Haltung versucht Charlie, seine Brüste zu verbergen; zwei Sport-BHs übereinander sollen sie so klein wie möglich erscheinen lassen. Die Serie widmet sich auch einem für trans* Personen besonders wichtigen Thema: Es wird gezeigt, wie Brüste sich auf sichere Art abbinden lassen. Explizit wird angesprochen, dass Bandagen oder Folien nicht um den Oberkörper gewickelt werden dürfen. Einfühlsam zeigt seine Freundin Maya ihm, wie er Kinesiotape verwenden kann – denn das gibt den Rippen und der Lunge mehr Raum.  

Wie in vielen queeren Coming-of-Age Serie ist der emotionale Höhepunkt das Coming-Out. Charlies enge, aber schwierige Beziehung zu seiner Mutter wird durch sein Geständnis ganz schön auf den Kopf gestellt. Das zeigen die Produzenten hier auch bildlich. Plötzlich ist Charlie zweimal zu sehen – einmal richtig herum, einmal um 180 Grad gedreht. Auch die Zuschauenden werden so in die Verwirrung, das Chaos und die Panik Charlies hineingeworfen. In dieser Szene wird besonders deutlich, dass sie von jemandem konzipiert wurde, der:die sich mit solchen Situationen auskennt: Charlies Emotionen wirken echt.

Aber ist das wirklich Repräsentation?

Verkörpert wird die Figur Charlie von der Schauspielerin Lea Drinda. Und das ist ein Problem: Sie ist ›im echten Leben‹ cis-weiblich, also nicht wirklich nichtbinär. Richtige Repräsentation ist für Minderheiten unheimlich wichtig. Eigene Erfahrungen der schauspielenden Person können einen Mehrwert für die Darstellung des Charakters haben – und nichtbinären Darsteller:innen in der Medienwelt einen Platz zu bieten, sollte doch vor allem Lau ein Anliegen sein.

Außerdem ist Charlie durch Drinda und durch die Konzeption der Figur weiß, schlank, weiblich gelesen und zeigt sich androgyn. Alle diese Eigenschaften erfüllen das einzige und äußerst begrenzte Bild einer nichtbinären Person, das – wenn überhaupt – akzeptiert wird. Es scheint, als solle die Person bis auf ihre Geschlechtsidentität besonders ›neutral‹ sein; ›abweichende‹ Merkmale wie ein Migrationshintergrund, eine andere Hautfarbe oder eine Behinderung werden als Ablenkung wahrgenommen. Dabei haben alle Freund:innen von Charlie einen Migrationshintergrund, wieso muss gerade die Hauptfigur dann mal wieder weiß und deutsch sein? Dass Charlie weiblich gelesen wird und sich androgyn präsentiert, spielt in die stereotype Vorstellung nichtbinärer Menschen hinein: Frauen, die einfach nicht so weiblich sein wollen.

Die Serie, die zum ersten Mal in der deutschen Fernsehgeschichte eine nichtbinäre Hauptfigur zeigt, macht einen Anfang: sie spricht über wichtige Themen und Emotionen nichtbinärer Menschen und der trans* Community im Gesamten. Dennoch bildet sie eben nur einen Beginn. Sie ebnet hoffentlich den Weg für weitere Beiträge, die sich tiefer mit den Belangen der Betroffenen und ihrer Repräsentation befassen. Und vielleicht ist dann auch die erste nichtbinäre Figur mit nichtbinärer Besetzung auf den Fernsehbildschirmen zu sehen.

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