Schuldig genug

Mit Am Boden unter der Regie von Johanna Schwung bietet das Deutsche Theater seinem Publikum einen fulminanten Flug durch das aufregende Seelen- und Gefühlsleben einer Pilotin, an dessen Ende man froh ist, nicht im Cockpit gesessen zu haben.

Von Maren K. Wöbbeking

Bild: Thomas Müller     

Drohnen, Militär und Krieg. Unweigerlich wecken diese Worte heute andere Assoziationen, als sie es vor dem 24. Februar dieses Jahres getan haben. Auch Am Boden, ein Stück, das von einer jungen Soldatin, die statt eines Kampfjets plötzlich Drohnen steuern muss, handelt und eigentlich im Dezember 2021 Premiere feiern sollte, kann sich den seither gewandelten Erwartungen an ein entsprechendes Stück nicht entziehen. Vielmehr werden sie proaktiv noch weiter befeuert. So liest man im Programmheft von der unverzichtbaren Bedeutung von Drohnen für die ukrainische Verteidigung und dem Bau von Kamikaze-Drohnen durch ein ukrainisches Start-Up.

Wer sich also spätestens nach dieser Lektüre für eine politisierte Debatte um das Für und Wider von Drohnen wappnet, wird von Am Boden allerdings – und dies ist als Kompliment gemeint – enttäuscht. Denn bei Am Boden geht es nicht nur um mehr, sondern man könnte vielleicht sogar sagen, es geht im Kern um etwas anderes. Es geht um den inneren Krieg eines Menschen.

Rund anderthalb Stunden lang erlangt man Einblick in die gegensätzlichen Pole, die »die Pilotin« (Jenny Weichert) innerlich bewegen, später zu zerreißen drohen und letztlich auch zu Fall bringen. Man begleitet sie bei ihrem Wandel vom Rockstar zum schwangeren »Wal in Zivil«, vom einsamen Wolf zur »extra guten« Mutter, vom Gott zur Gottesfürchtigen, von Blau zu Grau. Dabei lernt man zu Beginn eine vor Selbstbewusstsein strotzende Kampfjetpilotin kennen, deren Selbstverständnis zunächst nicht etwa durch ihre Arbeit mit Drohnen, sondern durch Erfahrungen von Liebe, Partnerschaft und Muttersein ins Wanken gerät. Es wird den Zuschauer:innen leicht gemacht, ihre Emotionen nachzuempfinden, ihre Adaptionsschwierigkeiten und ihren inneren Konflikt zu verstehen.

»Krieg in Schichtarbeit«

Dies gilt zunächst auch dann noch, wenn der Umstieg vom Kampfflugzeug auf die Drohnensteuerung bei ihr erst einmal nicht die bekannten »großen« Fragen aufwirft, sondern die ganz persönliche Schmach der gefühlten Degradierung von einer himmelsnahen, eigenständigen Pilotin zu einer kontrollierten, in einem Container sitzenden Knopfdrückerin betrifft. Nur schleichend bahnt sich an, dass sich die großen Fragen aber eben doch nicht ausblenden lassen, dass die als heroisch empfundenen Tätigkeiten mit Fairness nichts zu tun haben und fehlende physische Gefahr nicht mit psychischem Wohlbefinden gleichzusetzen ist.

Makaber klingt es, wenn die Pilotin davon spricht, dass ihr per Kopfhörer das Urteil über die jeweils von ihr mit den Drohnenkameras in den Blick genommenen Menschen mitgeteilt werde; dass die Drohne ihr gottesgleich permanente Überwachung derselben ermögliche und dass ihre Opfer, wenngleich am Ende vielleicht nicht schuldig, so doch jedenfalls schuldig genug seien. Deutlich früher als ihr, wird dem Publikum dann auch klar, dass der »Krieg in Schichtarbeit« sie in ein persönliches Desaster führen wird und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – folgt man ihr in den gut vorbereiteten Sog, in dem die Grenzen zwischen Privatleben und Krieg, Realität und Fiktion für sie vollends verschwimmen und die Pilotin letztlich auch erkennen muss, dass sie nicht die einzige Göttin am Himmel war.

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Info

Das Deutsche Theater Göttingen (DT) zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf vier Bühnen. Seit August 2014 stellen Intendant Erich Sidler und sein Team Themen aktueller gesellschaftlicher Ereignisse in den Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens. Studierende können fast alle Vorstellungen kostenlos mit dem Kulturticket besuchen. Mehr Infos zum Stück findet ihr hier.

Das Stück ist auf allen Ebenen gelungen. Ton, Bühnenbild und Licht nehmen eine:n mit, wenn die Pilotin fliegt oder vor dem Monitor sitzt. Symbolik, wie ihr Militäranzug oder der auf der Bühne angebrachte Fallschirm, wird geschickt eingesetzt. Die Sprache ist klar und direkt, die unverkennbar amerikanischen und selbst die teils derben Ausdrücke der Pilotin fügen sich stimmig in das Gesamtbild ein. Das Highlight des Stücks ist aber ganz zweifelsfrei die Leistung von Jenny Weichert. Die von ihr über die gesamte Zeit als Solo-Schauspielerin aufrecht erhaltene Präsenz hinterlässt eine:n nachhaltig beeindruckt. Erwartet man von einer Kampfjetpilotin wohl ein Höchstmaß an Konzentrationsfähigkeit und körperlicher Ausdauer, steht Weichert ihrer Figur insoweit in nichts nach. Am Boden ist eine grandiose Leistung aller Beteiligten und definitiv sehenswert.

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