Die Theaterferien sind vorbei, die Schauspielhäuser locken mit vielversprechenden Programmen. Unbedingt zu empfehlen ist ein Besuch im Schauspielhaus Hannover. Dort macht der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson aus der Edda eine kolossale »Metaphernkiste«.
Von Stefan Walfort
Bild: Aufrichtung der Weltesche Yggdrasil © Katrin Ribbe
Alles auf der Bühne ist in dichten Nebel gehüllt. Außer einer dunklen Silhouette ist nichts zu erkennen. Es ist Susana Fernandes Genebra, die auf dem Stamm eines am Boden liegenden Baumes sitzt, der Weltesche Yggdrasil. Leidenschaftlich deklamiert sie gegen ein Crescendo an, das Gabriel Cazes auf einem Flügel spielt. Sie schmettert die 64 Strophen der Völuspá, des Visionsgedichts der Seherin Völva.
Dieses Gedicht leitet die sogenannte Lieder-Edda ein. Deren Inhalt, vor allem Versdichtung, aber auch ein wenig Prosa, weisen viele der heutzutage erhältlichen Leseausgaben als Heldenlieder der Heiden oder der Wikinger aus, manche gar als »›Bibel der Germanen‹«1. In Wahrheit jedoch basiert er auf einem um zirka »1270 von einem einzigen isländischen Schreiber« abgeschriebenen »Ergebnis mannigfaltiger Sammelarbeit vieler« Zuträger.2 Die Urform ist zwar nicht mehr exakt rekonstruierbar, geschweige denn datierbar, aber im 13. Jahrhundert hat in Island längst das Christentum Einzug gehalten. Die Skalden, Islands Dichter des Mittelalters, reicherten den überlieferten Stoff nun intensiv mit christlichen Versatzstücken an – allerdings nicht als Kompendium für religiöse Praktiken, sondern als rein »dichterische Gestaltungen alter Heldensagen und Mythen«.3
Schon in der Völuspá werden Anleihen an biblische Motivik unübersehbar. Sie beginnt mit einem schöpfungsgeschichtlichen Teil. Anschließend stellt sie Zwerge, Riesen und Götter vor, schlägt so den Bogen zur Vorhersage des Weltuntergangs, genannt Ragnarök:
Doch auf Verwüstung und Massensterben folge das Entstehen einer neuen Welt. »Alles Böse bessert sich«, so prophezeit also die Seherin auf der Bühne, und während sich der Nebel verzieht, wird der Blick frei auf ein imposantes Bühnenbild: Der Boden ist von Schnee bedeckt; die Esche und ein Winterschlaf haltender Hüne sind es ebenfalls.
Unter sanftem Flügelspiel und gedämpftem Paukenschlag richten schwarz gekleidete Menschen die Esche auf. Von nun an wird sie in der Bühnenmitte von der Decke baumeln. Was auch immer in den kommenden dreieinhalb Stunden geschieht, es dreht sich alles rund um das göttliche Gewächs, an dessen Stamm die Götter täglich Ratschluss halten und dessen immergrüne Äste die ganze Welt umschlingen, wie die Prosa-Edda des isländischen Autors und Politikers Snorri Sturluson (1178 – 1241) berichtet.
Theaterführung mit Büchsenbier
Im Übrigen gilt Yggdrasil als Spenderin unermesslicher Klugheit. Mit einer der bekanntesten Geschichten darüber verrät das Regie-Team um Thorleifur Örn Arnarsson sogleich, welchem Schwerpunkt es sich verschrieben hat: permanenten Illusionsbrüchen und einem Fokus auf die Gegenwart, von der aus die Mythen einerseits populärwissenschaftlich erklärt, andererseits mehr veralbert als ernstgenommen werden. In der Rolle des Göttervaters Odin schickt die Spielleitung Hagen Oechel, einen zerknautschten Hut auf dem Schädel, einen abgewetzten Mantel umgeschlungen, auf der Suche nach Wissen zur Esche. Doch die lässt ihn nur dann von dem gewünschten Gut profitieren, wenn er dafür ein Auge zu opfern bereit ist. Kaum hat er sich einen Speer in sein Auge gerammt, schon verharrt er reglos, um einer plötzlich über die Bühne geführten Theater-Besuchergruppe als Exponat zur Ansicht zu dienen.
Derweil ist Christoph Müller in der Rolle eines Experten für die isländischen Mythen heidnischer Zeit, die auch Sturluson mit christlichen Motiven verwob, ganz in seinem Element. Vor Freude glucksend und mit zunehmend sich überschlagender Stimme erklärt er:
Zwar zählt der Experte nicht sämtliche hundert Götter auf, nur etwa die Hälfte, dennoch hört ihm aus der Besuchergruppe längst niemand mehr zu.
Arnarsson und Co. haben damit eine pfiffige Lösung gefunden, einen Teil der Merkversreihen, genannt Thulur, von denen viele Passagen der Lieder-Edda gesättigt sind, anschaulich zu vermitteln. Den Skalden des Frühmittelalters halfen sie als Mnemotechnik bei der damals noch hauptsächlich mündlichen Überlieferung der Mythen von einer Generation an die nächste. Auch Sturluson, dessen Hauptanliegen es war, die Skaldendichtung lebendig zu halten, übernahm das Mittel, um die Dichter seiner Zeit zu schulen. Der Besuchergruppe ist das Wissen darüber schnuppe. Ungeniert packen einige von ihr Büchsenbier aus. Genüsslich fangen sie an zu schlürfen. Andere bedienen sich an einem Hochzeitsbuffet, das für die Vermählung der Göttin Freya mit dem Riesen Thrym bereitsteht. Darauf, Freya heiraten zu dürfen, wird Thrym später noch beharren – als Ausgleich für die Rückgabe des vom Donnergott Thor abgeluchsten Hammers.
An der Säuferfront
Trotz Überlänge können Arnasson und Co. nur einen winzigen Ausschnitt aus Sturlusons Episoden aufbereiten, das Publikum allenfalls erahnen lassen, wie bildreich er die Alltagswelt von Zwergen, Riesen und Göttern gestaltet hat. Zudem verzichtet die Produktion weitgehend auf historische Kostüme. Das erschwert es, sich in die Köpfe der RezipientInnen des 13. Jahrhunderts hineinzudenken und nachzuvollziehen, wie sie sich die Figuren vorgestellt haben mögen. Loki zum Beispiel, den Vater schrecklicher Ungeheuer, den Schurken schlechthin, den Widersacher aller, unter anderem verantwortlich für den Tod des Lichtgottes Baldur, wird man sich wohl kaum – wie in Hannover – im silbrig schimmernden Anzug als lasziv mit den Lenden zuckenden Robbie Williams-Verschnitt gedacht haben. Treffend ist die Aufmachung trotz alledem, auch wenn Philippe Goos als Loki mit einer kräftigen Dosis Egomanie mitunter ziemlich dick aufträgt.
Nicht nur hier droht die Inszenierung manchmal zu sehr ins Schrille abzudriften. Was hat es überhaupt mit dieser Vorliebe für Fleischklops-Kostüme auf sich, die in Hannover oft zu beobachten ist? Ob in Franz Kafkas Amerika, Heiner Müllers Der Auftrag oder eben der Edda – dauernd wackeln bis zum Bauchnabel reichende Hängebrüste und gigantisch große Hintern auf der Bühne herum. Diesmal hüpfen zusätzlich sogar eine knautschige Vulva und ein ebensolcher Penis durchs Bild, für einen Augenblick lang vergnügt miteinander kopulierend. Und ob unbedingt Vulgärvokabular verwendet werden muss, damit die Götter sich von ihren Erzfeinden, den Riesen, abgrenzen können, ist ebenso fragwürdig. Umso genialer erscheint die Idee, die Welt der Mythen durch Auszüge aus Mikael Torfassons Romanen zu überschreiben. In ihnen verarbeitet er die Alkoholsucht seines Vaters Torfi Geirmundsson, eines neoheidnischen Fanatikers.
Am liebsten wollte Geirmundsson ein Leben lang ungestört Met in sich hineinschütten wie seine großen Vorbilder aus der Götterwelt. Stattdessen wartete eine Odyssee durch Entzugskliniken auf ihn – letztendlich vergeblich: »Er hatte keine andere Wahl als auf die Schlachtfelder zurückzukehren, auch wenn ihm geraten wurde, es nicht zu tun. Meines Vaters Schwert und Schild war die Flasche und der Drink; die Bar war sein Schlachtfeld. Dort kämpfte er bis zu seinem Tod«. Im Hintergrund rotiert nun rings um die Esche via Drehscheibe allerhand Gerümpel. Ein Schreihals kämpft um Aufmerksamkeit für Geirmundssons Leidensweg. Sein Gebrüll überlappt sich mit Klagen, die Frigg (Susana Fernandes Genebra) ganz vorne am Bühnenrand anstimmt: Sie legt Zeugnis ab von ihrer Mitschuld am Tod ihres Sohnes Baldur. Unbeeindruckt von allem sitzt versteinert Thor (Sarah Franke) auf einem Stühlchen daneben. Er verzieht keine Miene. Er schaut aus wie eine Puppe, wie Nippes, von Geirmundsson angesammelt, um seine Fantasien von Zwergen, Riesen und Göttern real erscheinen zu lassen.
Zum Schluss, als ein Räumungstrupp die gesamte Kulisse bis auf die Esche demontiert und sich bis auf Loki alle Figuren widerstandslos forträumen lassen, verstärkt sich der Eindruck. Ein kolossaler Theaterabend neigt sich dem Ende zu. Überdurchschnittlich viele SchauspielerInnen und Statisten sind diesmal involviert. Überdurchschnittlich lang war mit drei Monaten die Probenzeit. Das Resultat ist absolut empfehlenswert. Ein bisschen schade nur, dass erst in der zweiten Hälfte nach der Pause die Parallelisierung des Mythos᾽ mit Torfassons Texten erfolgt. Dadurch bricht die neu hinzukommende Erzählebene überaus unerwartet über die ZuschauerInnen herein. Bedürfnisse nach Kohärenz attackiert Arnarsson laut Programmheft jedoch mit Absicht: Die Bühne solle »als eine Metaphernkiste« wirken. Nicht alles, was geschieht, soll fürs Publikum vorgekaut werden. Im Hinblick darauf kann die Inszenierung nur als rundum gelungen bewertet werden. Verdienterweise spendet ein begeistertes Publikum nicht enden wollenden Applaus.