Einen lesefreudigen IndieBookDay allerseits! Unter diesen fünf Büchern ist für jede*n was dabei: Ob es um die Kunst des analogen Tweetens geht oder um die Befriedigung gleichermaßen bibliophiler wie intellektueller Gelüste – die reiche Schatzkammer der Buchläden ist gut gefüllt!
Von der Litlog-Redaktion
Bild: Illustration von www.karenina-illustration.de
Mira Landwehr: »Vier Beine gut, zwei Beine schlecht«. Zum Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass in der veganen Tierrechtsbewegung
Von Heilslehren und Besseresser*innen
Von Stefan Walfort
Mira Landwehr
»Vier Beine gut, zwei Beine schlecht«
KVV konkret: Hamburg 2019
126 Seiten, 15,00 €
Wer in innerlinken Debatten zuhause ist, wird etwas mitbekommen haben von Stichworten wie ›regressive Kapitalismuskritik‹ und Phantasmen von einer reichen Elite, die gegen das Wohl von ›99%‹ der Weltbevölkerung sämtliche Geschicke lenke. Als 2014 Jürgen Elsässer, Ken Jebsen, Lars Märholz und andere Neurechte unter dem Label ›Montagsmahnwachen für den Frieden‹ auf öffentlichen Plätzen mal mehr, mal weniger unverhohlen antisemitisch gegen das US-Finanzsystem wetterten, schlossen sich Teile der traditionellen Friedensbewegung sowie der Partei Die Linke an. Eine neue Querfront war geboren.
Die Historikerin und Germanistin Mira Landwehr schafft nun mit Vier Beine gut, zwei Beine schlecht ein Bewusstsein dafür, dass insbesondere die Tierrechtsbewegung zu einer Querfront-Haltung neigt. Landwehrs These: »Der emanzipatorische politische Veganismus, den einige Tierbefreiungsaktivistinnen und manche Tierrechtlerinnen vertreten, ist marginal und auch nicht immer unproblematisch«. Üblicher sei es allerdings, Veganismus von Marktmechanismen entkoppelt als Allheilmittel anzupreisen. Er könne dann »als bequeme Ausrede dienen, nicht an den Produktionsverhältnissen zu rütteln«. Heraus komme eine »Verzichtsideologie«, gepredigt von zuweilen sektenhaft anmutenden Organisationen. Landwehrs Fokus darauf, welche »Sprache […] vegane Aktivistinnen verwenden, um ihr Anliegen zu formulieren«, fördert deren frappierende Nähe zum Erlösungsvokabular kirchlicher Heilslehren zutage. Landwehr belegt das unter anderem an Ruediger Dahlke, »eine[m] der im deutschsprachigen Raum bekanntesten und vermutlich monetär erfolgreichsten Esoteriker« und dessen »naive[r] Vorstellung einer paradiesischen Lebens- und Erfahrungswelt, die Besseresserinnen erwartet«, sowie an der Meeresschutzorganisation Sea Shepherd, deren Name allein schon auf eine Selbststilisierung der Aktionisteninnen als Vertreterinnen Jesus᾽ hinweist.
Es wäre leicht, das alles als Mumpitz abzutun, ginge mit der Sakralisierung des Tieres, wie sie solche Kreise praktizieren, nicht zu oft die Verachtung des Menschen einher: In puncto Dahlke arbeitet Landwehr ein ganzes Bündel unterschiedlicher Varianten von Menschenfeindlichkeit heraus, die er vertrete: Antisemitismus, Ableismus, Misogynie, die Bereitschaft, das Leben von zu Quacksalberexperimenten wie »vegane Ernährung gegen Krebs« bereiten Anhänger*innen zu gefährden. Und bei Sea Shepherd liebäugele man mit einem auf »Massenmord« basierenden »Menschenzuchtprogramm«. Dass man gleichzeitig für das Wohl von Tieren und (allen) Menschen eintreten kann, scheint sich noch wenig herumgesprochen zu haben.
Die Tierrechtsbewegung verdankt ihre Taubheit auf diesem Ohr maßgeblich dem Philosophen Peter Singer. Bekannt wurde er durch das Buch Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere und durch die These, »dass ›die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist‹«. Landwehr, die sich eigens in einem Kapitel mit Singer befasst, attestiert ihm grundsätzlich ein »Desinteresse in Bezug auf Diskriminierungsformen, unter denen Menschen leiden«. Dass ihn Teile der Veganer*innen-Szene trotz allem anhimmeln, spricht Bände.
Es geht Landwehr nicht darum, per se eine vegane Lebensweise verächtlich zu machen. Vielmehr wirbt sie dafür, die Funktionsweisen des Kapitalismus in ihrer Komplexität ernstzunehmen. Menschenverächter*innen begegnet sie mit einer »reflektierte[n] Analyse«. Unterdrückte gegeneinander auszuspielen, egal, ob Mensch oder Tier, stabilisiert letztlich nur falsche Verhältnisse oder verschärft sie sogar. Das ist die Haupterkenntnis, die allen Leser*innen Landwehrs zumutbar ist. Die 15 Euro sind hier auf jeden Fall sinnvoll investiert.
Daan Heerma van Voss: Eine verspätete Reise
Das zwanzigste Jahrhundert im einundzwanzigsten Jahrhundert
Von Anna-Lena Heckel
Eine Reise kann vielerlei Gestalt sein. Ob Backpacking oder Geschäftsreise, Besuche oder Zeitreisen: Gefühle, Gedanken und Haltung werden auf so verschiedene Weise adressiert, dass die Modi des Reisens kaum vergleichbar scheinen. Daan Heerma van Voss’ Eine verspätete Reise ist diejenige an »[einen] Ort, der jede neue Generation zwingt, mit dem Absurden in Dialog zu treten, auch wenn man keine Worte dafür findet«, wie Erik Schumacher im Nachwort zu van Voss’ Essay schreibt. Der Ort, von dem er schreibt, ist Auschwitz.
Daan Heerma van Voss
Eine verspätete Reise
Büchergilde : Frankfurt am Main 2020
64 Seiten, 18,00 €
Die Reise des Autors und Erzählers nach Auschwitz bedeutet zugleich viele Reisen: eine auf den Spuren seines Namensvetters Daan de Jong, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, eine gedankliche Vertiefung dessen, was Erinnerungskultur bedeutet, bedeuten kann und sollte, und zugleich eine Reise in der Gegenwart, die in Flugzeugen, Bussen und im Taxi spielt.So führt der von Gregor Seferens und Ulrich Faure aus dem Niederländischen übersetzte Band die Spannungsfelder vor Augen, die das Gedenken mit sich bringt. Es ist ein Buch, das von Holocaust und Unmenschlichkeit handelt, und dabei genau das oft verschweigt: »Über das echte Früher, den Krieg, sprechen wir nicht.« Die Stille wird zu einer maßgeblichen Instanz des Gedenkens.
Die Bindung des Buchs in geprägtem Leinen wirkt wie eine so auch materiell umgesetzte Verbindung zur Vergangenheit. Der Text selbst erscheint als einer, der die Mittelbarkeit des Gedenkens in den Blick nimmt. »Die Geschichte von Auschwitz ist nicht meine und wird es auch nicht werden. Demut ist angebracht.« Diese zeigt sich auch in der Verortung des Gefühls nach dem Gedenkstättenbesuch, »nicht wirklich dort gewesen zu sein«. Diese Empfindung sei »[e]xakt der Grund, warum wir noch die Chance auf eindeutiges Glück haben.« Eine verspätete Reise führt uns – in Verbindung mit van Voss’ Gedenkrede von 2018 und Schumachers Nachwort – in eine Politik des Gedenkens, das sich aus Schweigen, Zuhören, Weitermachen und Innehalten angesichts der Gräueltaten zusammensetzt. Der schmale Band nimmt so nicht nur an einem Diskurs kollektiven Erinnerns teil, sondern auch an einem Diskurs über dieses Erinnern. Ihn zu lesen, sich an Formulierungen aufzuhalten und sich zahlreiche Absätze zu markieren, sei allen nahegelegt.
Enno Stahl: Diskursdisko. Über Literatur und Gesellschaft
Lesen, Aufregen, Nachdenken – repeat!
Von Amelie May
Enno Stahl
Diskursdisko. Über Literatur und Gesellschaft
Verbrecher Verlag: Berlin 2020
176 Seiten, 18,00 €
Es gibt innerhalb literaturwissenschaftlicher Debatten ja diese Themen, über die man den lieben langen Tag streiten könnte, gerne auch um des rhetorisch eloquenten Streitens willen, denn von falschen und richtigen Beiträgen kann meistens nicht die Rede sein. Die Themen bei diesem Geistessport sind vielseitig, doch in den Top Ten stehen mit Sicherheit der große und schwammige Begriff ›Literaturbetrieb‹ und die Frage danach, ob Literaturen eine soziale Verantwortung hätten. Diese Dauerbrenner stehen im Vordergrund des Buchs Diskursdisko. Über Literatur und Gesellschaft, dem Nachfolger des 2013 ebenfalls im Verbrecher Verlag erschienenen Buchs Diskurspogo.
Was der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl mit diesen beiden Bänden vorlegt, ist ein beispielbasierter Überblick über die verschiedenen Subgenres der jüngeren Gegenwartsliteratur und ihre Genese – der seine Voreingenommenheit in keinster Weise kaschiert. Das offenbart die Diskursdisko besonders im ersten der drei Hauptkapitel mit der Überschrift Literatur und Gesellschaft. Über den Literaturbetrieb sprechen, das heißt für den Verfasser, über die Verantwortung von Literatur zu sinnieren – insbesondere darüber, inwiefern eine sozialkritische Literatur überhaupt möglich sei, entstünde sie doch immer in elitären und hermetischen Kreisen. Seine Argumentationen mäandern zwischen marxistischer Gesellschaftsanalyse, Dekonstruktion von Literaturtheorien und einem (hoffentlich nicht ganz ernst zu nehmenden) Bashing von Autor*innen und ihrer behaupteten Priviligiertheit.
Sicherlich, das kritische Hinterfragen des Literatur- und Kulturbetriebs schadet nie. An vielen Punkten möchte man dem Verfasser trotzdem lautstark widersprechen. Beispielsweise, wenn Stahl für das Erzählen mit realistischem Anspruch fordert, prekäre Lebensumstände authentisch wiederzugeben; eine Protagonistin solle »nicht zudem noch einen alzheimerkranken Vater und einen bisexuellen Geliebten haben«. Wie realistisch ist es eigentlich, dass es auch nur eine komplett standardisierte ›Durchschnittsfamilie‹ gibt, möchte man auf diese Polemik vielleicht reflexhaft entgegnen. Und selbst wenn man die Gültigkeit dieser konstruierter Normen anerkennt, warum sollten sich Autor*innen nicht den totalen Ausreißer*innen und unwahrscheinlichen Szenarien widmen, wenn doch der Anspruch der Problemschilderung dadurch nicht geschmälert wird? Was ist denn mit der Verantwortung von Autor*innen, intersektionale Fragen aufzuwerfen? Stahl schafft es, mit seinen steilen Thesen, genau das zu evozieren: Aufregung und produktives Diskutieren über Gegenwartsliteraturen – nur ob der Verfasser konstruktiv mitdiskutieren würde, bleibt offen.
Abgesehen davon, dass Diskursdisko dazu animiert, kritisch die Themen von Literaturen nach ihrem Fundament und ihrer behaupteten Relevanz zu hinterfragen, gibt es auch viele Passagen, die gewisse Ironien der jüngsten Literaturgeschichte gewitzt auf den Punkt bringen und zu einem Aha- oder zumindest Hm-Moment führen. So schreibt Stahl zu den Postulaten Barthes’ und Foucaults, dass die Autor*innenintention nichts, die Rezeption alles sei: »Haltung kann es in einem postmodernen Text nicht mehr geben. Wenn, würde sie sofort der Ironie anheimfallen.« (Und Ironie liegt Stahl fern, fordert er doch engagierte Literaturen mit meinungsstarken Autor*innen, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind.)
Lesen, Aufregen, Nachdenken – repeat. In diesem Dreischritt ist die Lektüre sehr gut und produktiv zu beschreiten und bietet massig Stoff für diejenigen, die der unerbittlichen Diskussion nicht abgeneigt sind.
Hannes Bergthaller, Eva Horn: Anthropozän zur Einführung
Im Namen des Anthropozäns
Von Oke-Lukas Möller
Hannes Bergthaller, Eva Horn
Anthropozän zur Einführung
Junius Verlag: Hamburg 2019
256 Seiten, 15,90 €
Wer in einer geisteswissenschaftlichen Bubble sozialisiert wurde, kann dem Begriff des Anthropozäns ziemlich leicht erfolgreich aus dem Weg gehen – wenn da nicht die Künstler*innen wären. Auf ihrer Suche nach Inspiration scheren sie sich wenig um Grenzen und Disziplinen: In einer ästhetisch aufbereiteten und verkürzten Version erklärt Nick Cave: »that we’re falling now in the name of the anthrocene«. Das war 2016. Seitdem fiel der unheilschwangere Begriff immer häufiger, jüngst begab sich auch die Elektro-Pionierin Grimes als »Miss Anthropocene«, so ihr aktueller Albumtitel, in allerlei futuristische Welten. Der Junius-Verlag schafft mit Anthropozän zur Einführung nun Abhilfe für alle, die bisher nur ein diffuses Verständnis von diesem ausgesprochen produktiven Begriff hatten.
Wer allerdings den unbekümmerten Einstieg über popkulturelle Referenzen gewählt hat, wird bereits in der Einführung enttäuscht: Das Autor*innenteam Eva Horn und Hannes Bergthaller stellt dort die Frage, »wie Kunst jenseits der bloßen Thematisierung den Herausforderungen der erdgeschichtlichen Epochenschwelle gerecht werden kann.« Ihre Einführung kann also nicht innerhalb der geisteswissenschaftlichen Komfortzone bleiben: Der Begriff des Anthropozäns bedeutet auch einen über kurz oder lang bevorstehenden grundlegenden Bruch mit den relativ stabilen Lebensbedingungen der letzten Jahrtausende auf dem Planeten Erde. Um das zu erklären, zitieren Horn und Bergthaller zahlreiche naturwissenschaftliche Studien, die außerdem beweisen, dass der Mensch diese ökologische Instabilität maßgeblich selbst hervorgerufen hat.
Darüber, wann das Anthropozän begonnen hat, sei man laut Autor*innen uneinig. Im Zentrum aller Rekonstruktionen steht aber eine Einsicht, die wohl die meisten Menschen mit Grimes und Nick Cave teilen: Die Welt um uns herum verändert sich. Es kleben keine toten Insekten mehr auf Windschutzscheiben, Stürme werden stärker und eine Pandemie hält derzeit die ganze Welt in Atem. Doch das ist laut den Autor*innen nur die Spitze des Eisberges, denn das Perfide am Anthropozän ist, dass die Erde nicht Alarm schlägt, wenn die Stabilität der ökologischen und klimatischen Abläufe gefährdet ist. Besonders die Frage, wie der chronisch-kurzsichtigen Menschheit die Auswirkungen ihrer Lebensweise erfahrbar gemacht werden können, treibt die Autor*innen dabei um, weshalb sie eine Poetologie des Anthropozäns skizzieren.
Dem Hauptteil ihrer Einführung schicken Horn und Bergthaller ihren Leitgedanken voraus: »Dieses Buch ist eine Kartographie der Bruchlinien.« Diese Agenda mutet poststrukturalistisch an – und tatsächlich wird auf den 256 Seiten kräftig mit den Denkmodellen der rationalistischen Tradition aufgeräumt: Mit Donna Haraway und Bruno Latour wird die Grenze zwischen Natur und Kultur aufgehoben und die Hybridität beider Konzepte betont. Unter diesen veränderten Vorzeichen wird auch mit dem Anthropozentrismus abgerechnet. Eine neue disziplinübergreifende Wissenschaft wird gefordert, die – und hier verlassen wir das einschlägig poststrukturalistische Terrain – besonders auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften berücksichtigt.
Horn und Bergthaller gelingt mit Anthropozän zur Einführung ein weiterer anregender Band der Junius-Reihe. Er sei allen ans Herz gelegt, die sich Sorgen über die ökologische Zukunft machen, aber sich mit reinem Fatalismus nicht zufriedengeben möchten. Der Band vermeidet es, sich in allzu vereinfachende Erklärungen zu flüchten, trotzdem mahnt er einen tiefgreifenden Wandel im Konsumverhalten der westlichen Wohlstandsgesellschaften an. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser Aufruf nicht einfach in der geisteswissenschaftlichen Bubble verhallt.
Henning Ziebritzki: Vogelwerk
Einführung in die unbekannte Welt der Vögel
Von Anna Bers
Henning Ziebritzki
Vogelwerk
Wallstein: Göttingen 2019
64 Seiten, 18,00 €
Zwei maximal unterschiedliche Meinungen treten seit der Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Henning Ziebritzki über dessen prämierten Band Vogelwerk in Erscheinung. Die Kritikerin und Laudatorin Beate Tröger führt die Jury-Entscheidung, auf die Genauigkeit, Konzentriertheit, Geschlossenheit, aber auch auf das verstörende Potenzial der 52 Vogelgedichte zurück. Autor*innen wie z.B. Martina Hefter schlagen dagegen in sozialen Medien kritischere Töne an. Sie hinterfragen das unzeitgemäß »Raunende, Beschwörerische, Salbungsvoll-[M]agische« dieser Lyrik. Wer sich angesichts dieser Meinungsverschiedenheit unsicher ist, ob es sich lohnt, in das Bändchen des Wallstein-Verlags hineinzuschauen, kann hier drei Gründe erfahren, die für den Vogel-Reigen sprechen, aber auch drei Gründe, sich lieber anderen Gedichtbänden zu widmen.
Gegen die Vogelsammlung spricht (1.) ihre monotone und zurückgenommene Form. Auf den ersten Blick könnte man sich fragen, wieso sich die kleinen Skizzen überhaupt als Gedichte ausgeben: Rhythmen, Strophen, Klangfiguren – diese und andere Register des Lyrischen (und übrigens auch der Vogelsprache) bleiben in den stets elf Verse langen Blöcken einigermaßen ungenutzt. Ein Vogel klingt wie der andere – und zwar recht wenig. Gleichzeitig kommt (2.) der Stil so uniform wie vollmundig daher: Während die Vögel in recht erwartbaren Figuren und Vergleichen nervtötend rastlos flattern, fliegen, stürzen und hüpfen, stehen reglos und unterbestimmt die ganz großen Konzepte im Gedichtraum herum: »Zeit« und »Schöpfung«, »Panik und Agonie«, »Horror und Glück« und immer, immer wieder der Himmel. Ziebritzki interessiert sich (3.) nicht allzu sehr für die mannigfachen Super- und Sondereigenschaften der Vögel selbst: Er ignoriert den geheimnisvollen Guano des Kormorans, die unwahrscheinliche Kopfanatomie aller Spechte, die vermeintlich fehlenden Füße der Mauersegler. Die Vögel sind vielmehr nur das, was das ausgesprochen präsente Ich mit Blick und Ohr wahrnimmt. Dieser letzte Grund – anders gewandt – spricht aber ebenso gut (1.) für Ziebritzkis Piepmätze: Wer sich taxonomisch, zoologisch oder anatomisch mit Vögeln befassen möchte, kann dies anhand der Fachliteratur tun. »Gute Gedichte sind Non-Fiction. Sie gehören in das Sachbuch-Regal.« – sagt Monika Rinck, aber nur, weil gute Lyrik einen ganz spezifischen (hier: phänomenologischen) Zugang zur Welt bietet und damit Sachtexte nicht imitiert, sondern komplementiert. Aus diesem Grund ist Ziebritzkis Buch (2.) ein etwas altmodisches, aber derzeit durchaus wieder aktuelles Statement für einen sorgfältigeren Umgang mit der Natur – wer so genau hinsieht, dem können Klimawandel und Artensterben unmöglich entgehen. Und aufgrund der niedrigschwellig zugänglichen Mischung aus Aktualität und Altherrenhut (mit Ziebritzki zwitschern auch Goethe, Catull, Rilke und Plotin) eignet sich der Vogelreigen (3.) möglicherweise, um sich ohne Abschreckung nicht nur der unbekannten Welt der Vögel, sondern auch dem vielfach ebenso unbekannten Kosmos Lyrik anzunähern.