Das Mädchen mit den Knabenaugen

Else Lasker-Schülers Œuvre ist äußerst originär. In ihrem medial vielschichtigen Werk inszeniert sie sich immer wieder in ihrer bekannten Rolle als Prinz Jussuf von Theben. Doch das Spiel mit der Androgynie beginnt schon in ihren frühen Dichtungen.

Von Johanna Meixner

Bild: von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons, gemeinfrei

Else Lasker-Schüler – der Name gehört keineswegs zu denen der vergessenen Autorinnen. Im Gegenteil: Die Dichterin und Künstlerin (1869-1945) gilt als die weibliche Repräsentantin des literarischen Expressionismus.1Vgl. zum Beispiel Vollmer, Hartmut: »Rote Sehnsucht rinnt in meinen Adern«. Dichterinnen des Expressionismus. Versuch einer literarischen Standortbestimmung, in: Fähnders, Walter/Karrenbrock, Helga (Hgg.): Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld 2003, S. 39-57, hier S. 39. Dazu beigetragen hat die Aufnahme einer Auswahl ihrer Gedichte in Kurt Pinthus᾽ epochenmachende Anthologie Menschheitsdämmerung von 1919.2Siehe hier Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Berlin 1920. Darin ist Lasker-Schüler als einzige Dichterin neben 23 männlichen Dichtern wie etwa Jakob van Hoddis, Ernst Stadler und August Stramm vertreten. Mit Gedichten aus ihrem Gedichtband Styx (1901) gelangte Lasker-Schüler früh zu Bekanntheit in den Kreisen der modernen Avantgarden und provozierte den bürgerlichen Geschmack ihrer Zeit, der unfähig war, ihr Genie zu erkennen. Dem abstrusen Vorwurf der »völlige[n] Gehirnerweichung«, den ein Rezensent der Rheinisch-Westfälischen Zeitung in Hinblick auf Lasker-Schülers Gedicht Leise sagen (1910) formulierte,3Siehe hierzu Bauschinger, Sigrid: Else Lasker-Schüler 1869-1945. »Völlige Gehirnerweichung«, in: Duda, Sibylle (Hg.): WahnsinnsFrauen, Bd. 2, Frankfurt am Main 1996, S. 71-99, hier S. 71f. sind (hier auszugsweise) die Verse ihres Gedichtes entgegenzusetzen, aus denen unverkennbar eine unvergleichliche poetische Begabung spricht:4Lasker-Schüler; Else: Leise sagen, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 1.1: Gedichte, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Nobert Oellers, S. 127-128, Vers 1-6.

Du nahmst dir alle Sterne

Ueber meinem Herzen.

 

Meine Gedanken kräuseln sich

Ich muß tanzen.

 

Immer tust du das, was mich aufschauen läßt,

Mein Leben zu müden.

Zentralfigur der Berliner Avantgarde?

Doch Lasker-Schülers Schaffen erschöpft sich nicht in ihrem lyrischen Werk, das sich bis heute immer wieder neuer Buchausgaben erfreut.5Siehe zum Beispiel Lasker-Schüler, Else: Die Gedichte, hrsg. v. Gabriele Sander, Stuttgart 2016 und Dies.: Die Gedichte und Essays, hrsg. v. Katinka und Fritz van Eycken, Leipzig 2016. Vielmehr ist sie eine Künstlerin, die in ihrem medial vielschichtigen Œuvre voller selbstbezüglicher und intertextueller Referenzen äußerst originär war: Neben Lyrik verfasste sie Prosa, einige wenige Dramen, viele Essays und poetische Briefe. Sie zeichnete – vor allem aber inszenierte sie sich immer wieder auch in ihrer Rolle als Dichterin und Künstlerin. Wie Raphael Gross festhält, kann Lasker-Schüler als eine »Zentralfigur der künstlerischen Szene zu Zeiten der Weimarer Republik«6Gross, Raphael: Vorwort, in: Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder, Ausstellungskatalog Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2010, S. 7-9, hier S. 7. gesehen werden. In Hinblick auf diese weniger bekannte Bedeutung Lasker-Schülers ist es durchaus lohnend, die Dichterin als Künstlerin jenseits des Kanons und gerade auch im Zusammenhang ihrer umfassenderen Selbstinszenierung im Kontext der Moderne näher zu betrachten.

In den Kreisen der Berliner Avantgarden war Lasker-Schüler eine schillernde Figur. Sie war einige Jahre verheiratet mit dem Kunstorganisator Herwarth Walden und gab nicht nur ihm (der eigentlich Georg Lewin hieß) seinen neuen Namen, sondern sie war auch Namensgeberin der wohl wichtigsten expressionistischen Zeitschrift, des Sturm. Auch unabhängig von ihrem Mann stand Lasker-Schüler in enger Korrespondenz zu wichtigen Denkern und prägenden Künstlern ihrer Zeit wie unter anderem dem einflussreichen Literaturkritiker Karl Kraus.7Siehe Lasker-Schüler, Else: Briefe 1893-1913, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6, bearb. v. Ulrike Marquardt, Frankfurt am Main 2003 sowie Dies.: Briefe 1914-1924, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 7, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki Frankfurt am Main 2004. Mit Gottfried Benn und Franz Marc sowie dem heute weniger bekannten Peter Hille, der zur Jahrhundertwende ein legendärer Bohemien war, führte sie kongeniale künstlerische Dialoge, die nicht nur Eingang in Lasker-Schülers poetische Werke fanden, sondern auch in zahlreichen Bildern zum Ausdruck kommen. Immer wieder porträtierte Lasker-Schüler sich selbst als Prinz Jussuf von Theben und schuf mit ihm – ebenso wie mit ihrer schon früheren Selbstdarstellung als Tino von Bagdad – eine Kunstfigur, mit der sie zeitlebens identifiziert wurde.

Else Lasker-Schüler als Prinz von Theben, verwendet unter Genehmigung der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft e.V., Wuppertal

Das androgyne Spiel mit den Geschlechterrollen

Wie stark diese Gleichsetzung Lasker-Schülers mit den Figuren Prinz Jussuf von Theben und Tino von Bagdad war, geht unter anderem aus Gottfried Benns Rede auf Else Lasker-Schüler (1952) hervor, in der er festhält:

Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne daß alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern […]. […] Das war der Prinz von Theben, Jussuf, Tino von Bagdad, der schwarze Schwan.8Benn, Gottfried: Else Lasker-Schüler, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6: Prosa 4, hrsg. v. Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 54-57, hier S. 54f.

Aufsehen erregte dabei nicht nur ihre ungewöhnliche, orientalisch anmutende Kleiderwahl, sondern auch das offenkundige Spiel mit den Geschlechterrollen. Indem Lasker-Schüler mit Pluderhosen und kurzem Pagenkopf in Erscheinung trat, brach sie mit den konventionellen Geschlechtszuschreibungen ihrer Zeit und verlieh sich eine spielerische Androgynie, die auch in ihrem literarischen Werk eine große Rolle spielt.9Siehe dazu Florack, Ruth: Prinz Jussuf und die Neue Frau. Else Lasker-Schüler und Vicki Baum im »Uhu«, in: Grimm, Gunter E./Schärf, Christian (Hgg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 71-86; Stockhorst, Stefanie: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Perspektiven des androgynen Rollenspiels bei Else Lasker-Schüler, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 6 (2001), S. 165-179.

Welche Sprengkraft der Androgynie zukommt, erschließt sich erst unter Einbezug des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses:10Siehe hierzu Meixner, Johanna: Androgynie in der Prosa Else Lasker-Schülers, Würzburg 2020 (im Erscheinen), insbesondere das Kapitel »Zum historischen Kontext: Der Geschlechterdiskurs um 1900«. Schreibenden Frauen wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht die gleiche Autonomie wie männlichen Autoren zugestanden. Trotz der erstarkenden historischen Frauenbewegung und neuer sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse galten Autorinnen noch immer als Frauen in einem männlichen Beruf. Selbst der progressive Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld sah in der Berufswahl der Schriftstellerin einen »Beruf des anderen Geschlechts« und daher in Frauen, die als Schriftstellerinnen tätig waren, eine »Mischung männlicher und weiblicher Grundsubstanz.«11Hirschfeld, Magnus: Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb, Leipzig 1910, S. 515f. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch Lasker-Schüler von ihren Zeitgenossen mit männlichen Zuschreibungen bedacht wurde:12Vgl. auch hierzu Meixner, Johanna: wie Anm. 10. Karl Kraus hat in Lasker-Schüler die »einzige männliche Erscheinung der heutigen deutschen Literatur«13Lasker-Schüler, Else: Dichtungen und Dokumente. Gedichte, Prosa, Schauspiele, Briefe. Zeugnis und Erinnerung, hrsg. v. Ernst Ginsberg, München 1952, S. 578. gesehen. Der Schriftsteller Sigismund von Radecki postulierte: »Sie war in ihrem Genialen männlich [Jussuf, der Prinz von Theben] und hatte doch einen Frauenleib.«14Ebd, S. 576. Das männlich-androgyne Autorbild wird dadurch untermauert, dass Lasker-Schüler sich, wie Dieter Bänsch herausstellt, »fast ausschließlich männlicher Symbole bediente.«15Bänsch, Dieter: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes, Stuttgart 1971, S. 43.

Lyrische Homoerotik und Androgynie

Doch nicht nur in ihrer Selbstdarstellung unterwandert Lasker-Schüler die vorherrschenden weiblichen Rollenbilder – auch in ihren Dichtungen werden die Geschlechtergrenzen fragil. So bekundet etwa das weiblich anmutende lyrische Ich in ihrem frühen Gedicht Urfrühling (1901): »Ich vergass meines Blutes Eva / Über all’ diesen Seelenklippen, / Und es brannte das Rot ihres Mundes, / Als hätte ich Knabenlippen.«16Lasker-Schüler, Else: Urfrühling, in: Dies.: Gedichte, S. 39-40, hier Vers 14-17. Zur Analyse der Androgynie-Aspekte des Gedichtes siehe Hasecke, Ursula: Die Kunst, Apokryphen zu lesen. Zu einigen Momentaufnahmen »weiblicher« Imagination in der literarischen Arbeit Else Lasker-Schülers, in: Lühe, Irmela von der (Hg.): Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin 1982, S. 27-63. Der Vergleich mit den Knabenlippen, auf denen das Rot des Mundes Evas brennt, evoziert das Bild eines homoerotischen Kusses. Dass der Kuss nicht ausdrücklich benannt, sondern nur angedeutet wird, lässt den Schluss zu, dass das hier suggerierte Begehren ein eigentlich Unaussprechliches ist, weil sich in ihm die konventionellen Geschlechtergrenzen auflösen. Homoerotische Konstellationen begegnen in den Dichtungen Lasker-Schülers immer wieder – sie sind dabei allerdings nicht auf die weiblich-weibliche Verbindung beschränkt. So stellt sich das weibliche sprechende Ich Gedichte Du es ist Nacht, das 1907 im Rahmen des Prosabandes Die Nächte Tino von Bagdads veröffentlicht wurde, als homoerotisch liebender Knabe dar: »Über den Grabweg hinweg / Wollen wir uns lieben, // Tollkühne Knaben, / Könige, die sich nur mit dem Szepter berühren.«17Lasker-Schüler, Else: Die Nächte Tino von Bagdads, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, bearb. v. Ricarda Dick, Frankfurt am Main 1998, S. 67-97, hier S. 89.

Adaptionen des Platonischen Androgynie-Mythos

Das Changieren der Geschlechtsidentitäten ist ein wiederkehrender Aspekt der Androgynie in Lasker-Schülers Werk.18Vgl. zum Motivzusammenhang von Androgynie und Homoerotik in Lasker-Schülers Werk neben Hasecke auch Wetzel, Heinz: Spiel, Liebe und Androgynie bei Else Lasker-Schüler, in: Weichselbaum, Hans (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900, Salzburg 2005, S. 74-98, hier S. 85. »Androgynie« bedeutet wörtlich übersetzt »Mannweiblichkeit« und meint in einem umfassenderen Sinn die Vereinigung weiblicher und männlicher Eigenschaften in einer Person.19Vgl. Kuon, Barbara: Androgynität, in: Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, hrsg. v. Ralf Schnell, Stuttgart 2000, S. 21-22, hier S. 21. In der Kunst und Literatur hat die Androgynie eine andauernde Tradition. In Platons Dialog Das Gastmahl findet sich der berühmte Androgynie-Mythos erzählt, auf den künstlerische Adaptionen wie auch Lasker-Schüler immer wieder rekurrieren.20Platon: Das Gastmahl, aus d. Griech. übers. und hrsg. v. Thomas Paulsen, Stuttgart 2008. Zu Urzeiten – so erzählt Platons Mythos – hatten die Menschen noch eine andere Gestalt: Als Kugelmenschen lebten sie auf der Erde. Sie hatten zwei Köpfe, vier Arme und vier Beine und traten in unterschiedlichen geschlechtlichen Konstellationen in Erscheinung: Es gab männlich-männliche, weiblich-weibliche und männlich-weibliche, die letzteren wurden die Androgynen genannt.21Vgl. ebd., S. 29. In ihrem Übermut zogen die vergnüglichen Kugelmenschen den Zorn der Götter auf sich und wurden in der Mitte zerteilt. Seither suchen die Menschen nach ihrer verlorenen Hälfte und können nur in der Umarmung mit ihrer ursprünglich verlorenen Hälfte kurzzeitig ihre Sehnsucht stillen.22Vgl. ebd., S. 30ff.

In Lasker-Schülers Gedicht Nebel (auch unter dem Titel Erfüllung, 1905) findet sich eine frappante Analogie zu dem Motiv der sich kugelnden Menschen, die darauf hindeutet, dass Lasker-Schüler mit dem Mythos der Androgynie vertraut war:23Vgl. Hasecke, Ursula: wie Anm. 16, S. 54. »Und was werden wir beide spielen…. / Wir halten uns fest umschlungen / Und kugeln uns über die Erde, / Über die Erde.«24Lasker-Schüler, Else: Nebel, in: Dies.: Gedichte, S. 89, hier Vers 21-24. Das Androgynie-Motiv, das Lasker-Schüler bereits in ihren frühen Gedichten entfaltet, bleibt ein wesentliches Element ihrer nachfolgenden Prosa und ihrer Selbstinszenierung als Tino von Bagdad und Prinz Jussuf von Theben.25Vgl. Meixner, Johanna: wie Anm. 10.

Else Lasker-Schüler, Jussuf Prince Tiba (Postkarte an Franz Marc),23.12.1913, Mischtechnik auf Postkarte, verwendet unter Genehmigungdes Franz Marc Museums, Kochel a. See, Stiftung Etta und Otto Stangl, Foto: Collecto.art

Wider die biographistische Deutung

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.

Bis in die 1990er Jahre hinein sitzt die Forschung der scheinbaren autobiographischen Verschränkung von Leben und Werk auf und verkennt oftmals die Bedeutung, die dem androgynen Spiel zukommt.26 Das ändert sich nachwirkend erst mit Feßmann, Meike: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors, Stuttgart 1992. Ein Topos der Lasker-Schüler-Forschung ist, dass Lasker-Schüler sich die Jussuf-Maskerade aneignete, um das Ende ihrer Ehe mit Walden zu verarbeiten.27Siehe etwa ebd., S. 195 sowie Bänsch, Dieter: wie Anm. 15, S. 201f. Diese Fehleinschätzung ist ein weiterer Grund, warum auch Lasker-Schüler »Jenseits des Kanons« zu würdigen ist. Denn insbesondere in ihren weniger bekannten frühen Prosatexten Das Peter Hille-Buch (1906) und Die Nächte Tino von Bagdads (1907) offenbart sich eine raffinierte Autorinszenierung, die keineswegs zufällig Aspekte der Androgynie aufweist.28Zur Androgynie in Lasker-Schülers in diesen Werken siehe Meixner: wie Anm. 10. Hier zeigt sich, dass die androgyne Selbstdarstellung ihren Grund nicht in der Abweisung durch Walden hat, sondern beständiger Aspekt in Lasker-Schülers Selbstdarstellung als Autorin ist, da schon ihre Frühwerke gleichsam als Bühne der literarischen Autorinszenierung fungieren. Bereits in einem Brief von 1900 nennt Lasker-Schüler sich »Tino«: »Ich grüße Sie! / Else Lasker-Schüler. / die da genannt wurde ›Tino‹.«29Lasker-Schüler, Else: An Albert Weidner, 16. November 1900, in: Dies.: Briefe 1893-1913, S. 23. »Tino« ist auch der Name der Protagonistin des 1906 veröffentlichten Peter Hille-Buch, das nicht nur als gedichtetes Denkmal für ihren verehrten Freund Peter Hille verstanden werden kann, sondern zugleich die Selbstschöpfung Lasker-Schülers als literarische Figur initiiert.

Verwebungen von Text und Kontext

Raffiniert werden bereits in der ersten Episode des Peter Hille-Buch Text und Kontext verwoben, wenn die Erzählinstanz bekundet:

Ich war aus der Stadt geflohen und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre. Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: ›Was geizst du mit Dir!‹ Und ich schlug mein Auge empor und blühte auf und mich herzte ein Glück, das mich auserlas. Und vom Gestein zur Erde stieg ein Mann mit hartem Bart- und Haupthaar, aber seine Augen waren samtne Hügel. Und kleine Kobolde kletterten über seinen Rücken und beklopften ihn mit ihren Hämmerchen und nannten ihn Petrus. Und wir stiegen ins Tal herab und der Mann mit dem harten Bart- und Haupthaar fragte mich, von wo ich käme – aber ich schwieg; die Nacht hatte meine Wege ausgelöscht, auch konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende hungrige Norde hatten ihn zerrissen. Und der mit dem Felsnamen nannte mich Tino. Und ich küsste den Glanz seiner gemeisselten Hand und ging ihm zur Seite.30Lasker-Schüler: Das Peter Hille-Buch, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, bearb. v. Ricarda Dick, Frankfurt am Main 1998, S. 27-66, hier S. 29.

Das hier erwähnte Vergessen der vorgängigen Identität suggeriert nicht nur einen Bruch in der Biographie des fiktiven Ich, sondern es weist gleichsam auch über die erzählte Welt hinaus: In der Fiktion, so lässt sich die Eingangsepisode deuten, weiß die literarische Figur nichts mehr von seiner außerhalb des Imaginierten liegenden Identität als Lasker-Schüler. Lasker-Schüler ist nunmehr Tino, so wie Peter Hille – auf den der Titel des Peter Hille-Buch so unverkennbar referiert – im Text ausschließlich »Petrus« heißt. Die Verknüpfung von Text und Kontext wird durch beide Dichter auch dadurch forciert, dass sie in ihren Briefen und Essays immer wieder darauf verweisen, dass Peter Hille Lasker-Schüler auch im Leben mit dem Namen »Tino« versehen hat. Die Androgynie der Tino-Figuration wird dabei durch ihre Kindlichkeit und Knabenhaftigkeit konstituiert. So bekundet Lasker-Schüler selbst: »Ich war damals, als ich Peter Hille kennenlernte, wie man so sagt, noch ganz klein, himmelblau, er meinte zwar, ich sei rot und grün, und nannte mich Tino, das kleine Mädchen mit den Knabenaugen.«31Lasker-Schüler: St. Peter Hille, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 4.1: Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main 2001, S. 31-37, hier S. 31. Das Mädchen, das knabenhaft erscheint, ist, ebenso wie die spätere Selbstdarstellung Lasker-Schülers als Prinz Jussuf von Theben, ein androgynes Phänomen, das in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Lasker-Schülers Autorinszenierung steht.

Die Selbstbehauptung als Dichterin vor der Folie des androgynen Dichterideals der Romantik

Doch anders als die Forschung oftmals vermutet hat, negiert Lasker-Schüler mit ihrer androgynen Selbstdarstellung keineswegs ihr weibliches Geschlecht oder gar ihre Autorschaft.32Zur These der negierten Autorschaft vgl. Feßmann, Meike: wie Anm. 26, S. 17 sowie Hallensleben, Markus: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung, Tübingen 2000, S. 116. In ihrer Streitschrift Ich räume auf! (1925), in der sie ihre Verleger anklagt, hält Lasker-Schüler fest, dass »Else Lasker-Schüler« ein »starker Name [ist], der zum ersten Male für mich zeugte.«33Lasker-Schüler, Else: Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger, in: Dies.: Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften, S. 47-85, hier S. 61. Ihren Status als Dichterin verteidigt Lasker-Schüler immer wieder in ihren Werken – etwa auch dadurch, dass sie die Maskeraden ganz transparent als solche inszeniert und immer wieder durchscheinen lässt, dass sich in dem Gewand Jussufs die Berliner Dichterin verbürgt: »ich war verkleidet als Poet […] Ich bin Poetin!!«34Lasker-Schüler: Briefe nach Norwegen, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, bearb. v. Ricarda Dick, Frankfurt am Main 1998, S. 177-261, hier S. 250f. Dafür, dass Lasker-Schüler mit ihren androgynen Selbstdarstellungen an ihrer Anerkennung als poetischer Autorität gelegen ist, sprechen zudem Anspielungen auf das Ideal des androgynen Dichters, das vor allem in der literarischen Romantik kumuliert.

Geprägt wurde das Bild des androgynen Dichtergenies insbesondere durch die maßgeblichen romantischen Bildungsromanen Lucinde (1799) von Friedrich Schlegel und Heinrich von Ofterdingen (1802) von Novalis.35Zur androgynen Autorschaft in der literarischen Romantik siehe insbesondere Horstkotte, Silke: Androgyne Autorschaft. Poesie und Geschlecht im Prosawerk Clemens Brentanos, Tübingen 2004. Beide Romane haben gemeinsam, dass sie die Bildungswege männlicher Protagonisten erzählen, die jeweils in der liebenden Begegnung ihrer Frauen ihr dichterisches Potential vollends entfalten und durch die Liebe ihres weiblichen Gegenparts erst komplettiert werden. So heißt es etwa in Schlegels Lucinde: »Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen. Dann will der Verstand den innern Keim der Gottähnlichkeit entfalten, strebt immer näher nach dem Ziele und ist voll Ernst, die Seele zu bilden, wie ein Künstler das einzig geliebte Werk.«36Schlegel, Friedrich: Lucinde. Ein Roman (1799), kritisch hrsg. v. Karl Konrad Pohlheim, Stuttgart 1999, S. 89. Diese Vervollkommnung des männlichen Dichtergenies kann insofern als Motiv der Androgynie interpretiert werden, als schon in Platons Androgynie-Mythos die mannweibliche Liebesvereinigung als androgyne Konstellation verstanden wird. Bildung als eines der prägenden Narrative der Zeit um 1800 wird in der Romantik also nicht nur mit Männlichkeit, sondern auch mit Androgynie assoziiert.37MacLeod: Catriona: Embodying Ambiguity. Androgyny and Aesthtics from Winckelmann to Keller, Detroit 1998, S. 15 und S. 89. Und gerade diese Assoziation von Androgynie und dichterischer Vervollkommnung ist eine wesentliche Folie für Lasker-Schülers Konzeption der Tino-Figur im Peter Hille-Buch.38Siehe hierzu Meixner: wie Anm. 10, insbesondere das Kapitel »Das Peter Hille-Buch: Androgynie, Repräsentanz und poetische Legitimität«.

Tinos androgyner Bildungsweg im Peter Hille-Buch

Tino, das »Mädchen mit den Knabenaugen«, nimmt in der episodisch entfalteten Handlung des Peter Hille-Buch eine literaturgeschichtlich traditionell männlich assoziierte Position ein: Es ist Tinos Entwicklung zur Dichterin, die in der Handlung nachvollzogen wird.39Zur Deutung der Androgynie im Peter Hille-Buch vgl. ebd. Zur Deutung der Handlung als Entwicklungsweg vgl. Hermann, Iris: Wege zur ästhetischen Literalität – Topographie des Schreibens in Else Lasker-Schülers »Peter Hille-Buch«, in: Gödden, Walter/Kienecker, Michael (Hgg.): Prophet und Prinzessin – Peter Hille und Else Lasker-Schüler. Mit Berichten aus der Werkstatt der Peter-Hille-Forschungsstelle, Bielefeld 2006, S. 207-225. Die Androgynie wird dabei jedoch anders als in den romantischen Bildungsromanen nicht durch eine heterosexuelle Liebesvereinigung konstituiert, vielmehr ist Tino in sich selbst androgyn. So wird sie nicht nur, wie aus der oben zitierten Eingangsepisode hervorgeht, männlich anmutend in den Text eingeführt, sondern changiert auch in der Fremdsicht zwischen männlich und weiblich. Die anderen Figuren erkennen Tino aus der Ferne als »Knaben«40Lasker-Schüler, Else: Das Peter Hille-Buch, S. 59., während den Leser*innen durch das weibliche Pronomen, mit dem konstant auf Tino referiert wird, Tino als weibliche Figur ausgewiesen wird. Der Entwicklungsprozess Tinos zur Dichterin wird in verschiedenen Stationen vollzogen, die mal männlich und mal weiblich kodiert sind. So verkleidet sich Tino unter anderem als Scheherezade (»und ich musste das Kleid Scheherezadens anlegen«41Ebd., S. 33f.) und damit als die Märchenerzählerin aus Tausendundeine Nacht und damit als eine der berühmtesten weiblichen Erzählstimmen der Weltliteratur. Dadurch scheint Tino sich zunächst in eine weiblich kodierte Erzähltradition einzufügen. Andererseits wird sie als Lehrling ihres Meisters Petrus dargestellt, womit Tino eine männlich kodierte Position einnimmt.

Poetische Initiation und Legitimation

Die eigentliche poetische Initiation Tinos vollzieht sich bezeichnenderweise in einem androgyn aufgeladenen Prüfungsereignis: Tino bekommt von ihrem Meister Petrus einen Dolch zugesteckt, mit dem sie ein Tor passiert und sich in einem rätselhaften Kampf beweist, der in der Handlung nicht explizit erzählt wird. Angedeutet wird nur, dass der Dolch, der nunmehr wie ein Körperteil anmutet, blutet: »Und einen Dolch steckte er in meinen Gürtel – ich wusste nicht, warum das geschah. Aber als ich durch das goldne Tor in die Stätte kam, schwollen mir süssliche Eitelkeiten entgegen, […]. Und als ich zu Petrus zurückkehrte, brannte mein Leib und er zog den Dolch aus meinem Gürtel, der blutete.«42Ebd., S. 50. Die höchst suggestive und stark verschlüsselte Szene spielt mit phallischen und deflorierenden Symbolen, die durch dieses Changieren männlicher und weiblicher Konnotationen androgyn erscheinen.43Vgl. hierzu Bischoff, Doerte: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers, Tübingen 2002, S. 118ff.; Bluhm, Lothar: Nietzsche – Steiner – Lasker-Schüler. Wege der Nietzsche-Rezeption bei Else Lasker-Schüler, in: Else-Lasker-Schüler-Jahrbuch zur klassischen Moderne 1 (2000), S. 89-120, hier S. 115f.; Hermann Iris: wie Anm. 39, S. 220. Vor Petrus, der Tino auf die kämpferische und damit in ihren Grundzügen männlich anmutende Probe stellt, erweist sie sich würdig, das Andenken zu erfüllen, das er sich von Tino wünscht: »Du wirst meinem Andenken einen Thron bereiten.«44Lasker-Schüler, Else: Das Peter Hille-Buch, S. 50. Der Text selbst stellt schließlich dieses Andenken dar – er ist eine Huldigung Petrus’ und zugleich der Beweis der poetischen Potenz Tinos, die als auch in der erzählten Welt als Verfasserin des Peter Hille-Buch in Erscheinung tritt.

Das kämpferisch verteidigte Künstlertum

Die im Peter Hille-Buch evozierte Verknüpfung von Androgynie und Künstlertum bleibt ein beständiges Merkmal der Tino- und Jussuf-Figuren in Lasker-Schülers Prosa der Schaffensphase bis 1919. Dass Lasker-Schüler einerseits mit traditionellen Geschlechterbildern ihrer Zeit bricht und sich andererseits auf motivgeschichtliche Vorprägung des androgynen Dichters bezieht, lässt sich als emphatische Verteidigung ihrer Rolle als legitimierte Dichterin und Künstlerin verstehen.45Vgl. hier die zentrale These in Meixner: wie Anm. 10. Die Figuren ihrer literarischen Texte geben sich immer wieder kämpferisch. Die Erzählinstanz in den Briefen nach Norwegen konstatiert: »Ich richte mich noch einmal auf, stoße meine wilden Dolche alle in die Erde, eine Kriegsehrung zu meinem Haupte. Hier und nicht weiter!«46Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen, S. 260. In dem Prosastück Der Kreuzfahrer (1910) trägt die weibliche Erzählfigur »das heilige Kriegsgewand meiner Heimat, im Gürtel, den Dolch, der ist gebogen und unentwendbar, wie die Mondsichel.«47Ebd., S. 404. Mit diesem Gewand tritt sie als »Kriegerin“ auf und zieht als erste Prinzessin von Bagdad »in die Schlacht.«48Ebd., S. 405. Und auch die Figur des kaiserlichen Jussuf in dem Roman Der Malik (1919) gibt sich kämpferisch, wenn es heißt:

Gestern hielt der Kampf an bis in die Nacht. […] Ich scherze und tauche den Schreibstift in Blut. Ich kämpfe wie im Gemälde; Meine Lippen sind noch schwarz vor Blutdunst. Ich lag dann den Rest der Nacht wach […], nur Mein Somali Oßman starrte geradeaus in mein Gesicht, das dichtete Rosen nach all dem Kriegsgräuel.49Lasker-Schüler, Else: Der Malik. Eine Kaisergeschichte mit Bildern und Zeichnungen (1919), in Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, bearb. v. Ricarda Dick, Frankfurt am Main 1998, S. 431-521, hier S. 449.

Bezeichnenderweise ist es ein Kampf am Schreibtisch, den Jussuf hier ausficht. Es ist der Ort, von dem aus Lasker-Schüler sich als Dichterin für die Nachwelt unvergesslich macht.

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